Nachtblüten
daß du, solltest du diese traurige Geschichte je erfahren müssen, die Kraft und das Mitgefühl aufbringen kannst, die deine Mutter besaß – nicht um meinet-, sondern um deines Bruders willen. Versuche ihn zu lieben, Sara. Denn Einsamkeit ist etwas Furchtbares… Einsamkeit…«
Er trank einen Schluck Wasser. Die Hand, die das Glas hielt, zitterte. Wieder erklang eine leise Stimme hinter der Kamera. Jacob schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Der Bildschirm wurde schwarz.
Sie warteten, aber diesmal kam nichts mehr, und schließlich drückte der Staatsanwalt auf die Rückspultaste.
»Und er sagt, er hätte das Sara nie gezeigt?«
»Nein. Als sie bei ihm Hilfe suchte, hat er ihr von dem Band erzählt und ihr gesagt, was drauf ist, aber nur den Teil erwähnt, der sie betrifft – Jacobs Bekenntnis zu seiner Vaterschaft – und ihr Gemälde. Er schlug vor, sie solle ihrem Bruder einfach sagen, daß sie von diesem Bild weiß.«
»Ist ihm klar, daß er damit ihren Tod heraufbeschworen hat?«
»Ja, natürlich. Aber er meinte, wenn er ihr das Video gezeigt hätte, wäre es auf das gleiche hinausgelaufen.«
»Scheint nicht leicht zu erschüttern, dieser Umberto D’Ancona. Und Sie meinen, ich sollte trotzdem noch mal mit ihm reden?«
»Unbedingt. Nicht, daß ich glaube, Sie könnten ihn dazu bringen, seine Meinung zu ändern. Die Arbeit seiner Organisation ist zu wichtig, als daß er sie unsretwegen aufs Spiel setzen würde – und, wie er richtig sagt, für Sara käme ohnehin jede Hilfe zu spät.«
»Hat seine Organisation es denn wenigstens geschafft, anderen zu helfen?«
»O ja. In vielen Fällen. Er hat mir von einem französischen Ehepaar erzählt, daß seine letzten Jahre in bitterer Armut verbrachte. Die Frau hatte Krebs. Eins ihrer Gemälde, die die SS beschlagnahmt hatte, wurde von einem Mitglied der Organisation auf einer Pariser Ausstellung entdeckt. Natürlich rede ich jetzt, wie gesagt, von gestohlenen Kunstwerken. Da liegt der Fall etwas anders als bei Jacobs Geschäften, aber es ist trotzdem ein schwieriges Unterfangen, solche Bilder zurückzubekommen, besonders, wenn sie mehrmals den Besitzer gewechselt haben und der letzte Käufer durch die Rückführung den kürzeren zieht.«
»Hm. Auch die Käufer müssen von der zweifelhaften Herkunft der Bilder gewußt haben.«
»Trotzdem ist es nicht leicht.«
»Nein. Und D’Ancona hat natürlich recht. Wenn Jacob Roths Geschichte in den Zeitungen breitgetreten würde – nicht nur seine unlauteren Gewinne, sondern auch Ruths Schicksal und der Tod der armen Sara –, dann würde es für die Organisation in Zukunft noch sehr viel härter. Wäre ein gefundenes Fressen für die Rassisten: ›Diese Juden hauen sich gegenseitig übers Ohr, und wir sollen uns wie die Chorknaben benehmen.‹ D’Ancona wird seine Meinung auch mir zuliebe nicht ändern, Guarnaccia.«
»Bitte, sprechen Sie trotzdem mit ihm. Es muß einen Weg geben. Gemeinsam würden Sie bestimmt eine Lösung finden.«
»Na schön, ich will’s versuchen.«
»Gut. Wir müssen den Bruder finden, feststellen, was Rinaldi mit der Sache zu tun hat, und…«
»Und?«
»Ja, da ist noch etwas.«
»Den Satz habe ich von Ihnen schon ziemlich oft gehört. Aber Sie wissen doch von D’Ancona, daß Sara mehr aus Jacobs Nachlaß beanspruchte als nur ihr Bild und wie verbittert sie war, weil man ihr die Wahrheit so lange vorenthalten und sie darüber ihr Leben vergeudet hatte. Ich würde sagen, vieles davon ging auch auf das Konto ihrer Mutter. Aber Sie haben mir die Daten gezeigt, und es paßt doch alles zusammen. Nachdem ihre Mutter gestorben war, brauchte Sara psychiatrische Hilfe. Aber bezeichnenderweise nicht gleich nach ihrem Tod – da war diese seltsame Lücke. Nun wissen wir, warum. Es war der Tod von Jacobs Frau, ein paar Monate später, der Saras Zusammenbruch verursachte. Sie dachte, jetzt würde sie ihr Gemälde zurückbekommen, aber Jacob hielt sie weiter hin, weil er sich nicht traute, seinem Sohn die Wahrheit zu sagen. Und dann Saras Rückfall in jüngerer Zeit. Da war Jacobs Tod die Ursache. Sie erbte einen Bruder, aber immer noch kein Bild. Sie nahm Verbindung auf zu dem Bruder, sie trafen sich. Sara wollte Geld, er wird ihr vermutlich die Tür gewiesen haben. Ich stimme Ihnen zu, wir müssen den Bruder finden, und wir müssen den Fall Rinaldi klären, aber auch damit können wir das, was passiert ist, nicht ungeschehen machen. Der Anwalt hat recht, wenn er sagt, daß Sara jetzt
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