Nachtblüten
zum Betteln auf die Straße schickten, geflohen sind. Im Augenblick beherbergt das Heim vierzehn solcher Sozialwaisen. Für die meisten von ihnen ist es das erste geordnete Zuhause ihres Lebens. Sie gehen zur Schule, machen gemeinsam Hausaufgaben, können sich rundum satt essen, helfen beim Füttern von Hühnern und Kaninchen, und sie spielen. Haben Sie schon einmal Kinder erlebt, die nie spielen durften, Maresciallo?«
»Ich denke, Enkeleda könnte so ein Kind gewesen sein. Aber Hühner und Kaninchen füttern, das könnte sie wahrscheinlich. Sie ist ja eigentlich kein Kind mehr, aber der Schaden, den sie durch die Gehirnverletzung davongetragen hat, der hat sie auf das geistige Niveau einer Fünfjährigen zurückversetzt.«
»Ich könnte mir vorstellen, daß der Umgang mit Kindern ihr guttun wird. Das Heim ist sehr schön gelegen, hoch oben in den Bergen, wo es kühler ist und die Luft besser. Aber die Kehrseite dieses gesunden Klimas ist die Abgeschiedenheit, und die ist Kindern, die ohnehin schon verängstigt und kontaktscheu sind, pädagogisch natürlich nicht so zuträglich. Darum ist es wichtig, daß sie in ihrem Heile-Welt-Asyl möglichst viel Besuch von außerhalb bekommen, um die Verbindung zur realen Welt nicht zu verlieren. Ich bin dort, sooft es meine Zeit erlaubt. Und ich würde vorschlagen, daß wir demnächst einmal zusammen hinfahren und mit den Kindern essen. Sie sollten Ihre Uniform tragen und ihnen ein bißchen was über Ihre Arbeit erzählen, bevor Sie ihnen Enkeleda vorstellen.«
»Enkeleda…?«
»Ganz recht. Ich werde mit den Therapeuten in der Klinik reden, und dann nehmen wir sie mit. Sie werden staunen, wie schnell sie laufen lernen wird, wenn wir ihr begreiflich machen, daß sie dort leben darf, sobald ihre Beine ihr wieder gehorchen. Ich telefoniere mit den zuständigen Stellen, und wir organisieren das sobald wie möglich. Und in der Zwischenzeit sollten Sie sich eine Pause gönnen und den Fall Hirsch ruhen lassen, bis Sie von mir hören, daß es neue Erkenntnisse gibt. Ich denke, ich werde unseren Freund Rinaldi anrufen und nett mit ihm plaudern, mich vielleicht sogar entschuldigen. Mir scheint, ich erinnere mich jetzt, auf wessen Abendgesellschaft wir uns getroffen haben könnten.«
»Wirklich?«
»Nein. Ich bin sogar sicher, daß wir uns nie begegnet sind, aber wenn ich ihm einen recht illustren Namen präsentiere, selbstverständlich einen mit Titel, dann wird er mir aus der Hand fressen.«
»Ja.«
»Eine kleine Scharlatanerie. Sie sehen, ich lerne von Ihnen.«
»Von mir?«
»Natürlich ist mein Einfall nicht halb so gut wie der Trick, mit dem Sie Rinaldi aus dem Stegreif D’Anconas Namen entlockt haben.«
»Ich hätte lieber Sara Hirsch nach dem Namen ihres Anwalts fragen sollen, und noch nach einigem mehr. Aber jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten.«
»Hören Sie auf mich, Guarnaccia, und treten Sie erst mal kürzer.«
Er befolgte den Rat des Staatsanwalts. Das heißt, er unternahm nichts Produktives im Fall Hirsch. Aber da er das, nach seiner Auffassung, von Anfang an nicht getan hatte, empfand er diese ›Pause‹ keineswegs als erholsam. Immerhin gewann er soviel Anschluß an den normalen Alltag, daß er sich mit Teresa wegen Giovanni in die Haare geriet.
»Salva, man kann ein Kind nicht zu etwas zwingen, das ihm partout nicht liegt.«
»Hab ich was von Zwang gesagt? Ich sage nur, wir hätten darüber diskutieren können, das ist alles!«
»Diskutieren? Diskutieren? Den ganzen letzten Monat habe ich versucht, mit dir darüber zu diskutieren, aber das war ja, als ob man gegen eine Wand redet. Tag für Tag hab ich davon angefangen, aber du hörst ja nicht, was man dir sagt. Nicht ein Wort von dem, was ich dir erzählt habe, hast du mitbekommen, oder? Na, sag schon!«
»Natürlich habe ich…« Aus dem Nebel stiegen Sätze auf, Sätze, die er mit einem Knurren oder einer Umarmung beantwortet hatte, je nach Stimmung. In der Nacht … dieser entsetzlichen Nacht nach der Verfolgung auf der Autobahn… er war ihr so unendlich dankbar gewesen dafür, daß sie so lange und tröstlich zu ihm sprach, ihm von den Jungs erzählte, bis er endlich einschlafen konnte. Diese schlaffen, hilflosen Glieder, ein armes totes Kaninchen, aber der Staatsanwalt… »Salva, um Himmels willen! Du hörst mir ja nicht einmal jetzt zu! Wenn du zu beschäftigt bist, um dich für die Zukunft deiner Kinder zu interessieren, meinetwegen, aber dann fang auch nicht an, herumzukommandieren,
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