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Nachtblüten

Nachtblüten

Titel: Nachtblüten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Magdalen Nabb
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Gegengruß ab. Oder blieb Rinaldi stumm? Der Maresciallo achtete nicht darauf. Seine großen Augen hatten den langgestreckten Saal im Blick, die verstaubten Brokatsessel, die gewirkten Tapeten. Rinaldi nahm er nur flüchtig wahr, wie einen langgesuchten Wegweiser in der Dunkelheit… Renato Rinaldi… Und der gute Renato, dessen Kunstverstand mir immer ein Vorbild war und der mich wohl noch mehr geprägt hat als mein Vater… ein Wegweiser, der auf ein viertes Gesicht hindeutete, eines, das seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte, während der Capitano mit seinem Verhör begann. Das Gesicht neben dem lebensgroßen Ölgemälde der schönen Frau in ihrem Garten.
    … die schönste Frau, die ich je gesehen habe… Wenn Sie ins Haus zurückkommen, dann schauen Sie sich Ihr Porträt im großen Saal an. Natürlich hängt auch ein Bild meines Vaters dort… Auch dies lebensgroß und in Öl gemalt. Im Smoking vor einer Innenansicht. Der Vater. Er war es, der den Blick des Maresciallo gefangennahm. Jung noch und gutaussehend, James Wrothesly in der Blüte seiner Jahre. Aber diese Augen hätte er überall erkannt, diese finstere Entschlossenheit, den festen Blick. Der Mann auf dem Bild war Jacob Roth.
    Jetzt sprach Rinaldi.
    »Das Steueramt hat mich gebeten, ihnen bei der Taxierung der Kunstgegenstände behilflich zu sein, weil ich mit der Sammlung vertraut bin, und da habe ich natürlich…«
    Ohne den Blick von Jacobs Augen zu wenden, zupfte der Maresciallo den Capitano am Arm und sagte achtlos mitten in Rinaldis Erklärung hinein: »Wir müssen den Staatsanwalt anrufen.«
    Der Capitano sah ihn an. Das genügte. Ohne sein gewohnt gravitätisches Gebaren im mindesten zu ändern, bat er, man möge sie in das Zimmer führen, in dem Sir Christopher tot aufgefunden worden war, und dort angekommen gab er Anweisung, sie allein zu lassen. Porteous, der sie hingeführt hatte, wollte offensichtlich nicht gehen, aber falls er vorhatte, Einwände zu erheben, so genügte auch ihm ein Blick in das Gesicht des Maresciallo. Er ging und schloß die Tür hinter sich.
    Der Maresciallo atmete schwer. Gerüche, Geräusche, Bilder erfüllten seinen Kopf. Gesichter starrten ihn an, mal mit der ausdrucksvollen Mimik der Lebenden, mal mit dem stummen, verständnislosen Vorwurf der Toten. Der düstere Gestank eines Vernichtungslagers, ein duftender, lichtdurchfluteter Garten… Doch der Capitano brauchte Erklärungen, logische Zusammenhänge, Worte, ach, so viele Worte… Er tat sein Bestes, während seine Augen dieses neue Ambiente in sich aufnahmen, es gleichsam fotografierten: den geschändeten Raum, dessen schönes Mobiliar man achtlos beiseite geschoben hatte, das große Eichenbett mit den am Fußende aufgetürmten Decken und Laken, in dem der Abdruck seiner traurigen Last fast noch sichtbar war. Daneben ein Rollstuhl. Und das Gemälde! Saras Bild, nicht mehr reduziert auf die unscheinbaren Striche und Konturen der Schwarzweißfotografie, sondern eindrucksvoll plastisch und funkelnd vor Lebendigkeit. Seerosen… Und wenn ich sie lange genug anschaute… »Guarnaccia!«
    »Ja. Ich muß es selbst erst verarbeiten. Mein Sohn hat mir einmal etwas in einem seiner Schulbücher gezeigt. Eine Art Trickbild. Man konnte es entweder als orangefarbene Silhouette eines Kelches sehen oder als die schwarzen Konturen zweier Gesichter. Dabei schaute man immer auf das gleiche Bild, es kam nur auf den Blickwinkel an, aber man konnte nie beides zusammen sehen, nicht mal für den Bruchteil einer Sekunde. Ich weiß nicht, ob Sie mir folgen können…«
    Der Capitano schien allmählich zu verzweifeln.
    »Entschuldigen Sie. Das Gemälde drüben im Saal hat mir einen Schock versetzt, obwohl ich einsehe, daß das vermutlich gar nicht nötig gewesen wäre. Wenn jemand seinen Namen ändert, hält er doch immer an irgendeinem Merkmal fest, nicht wahr? Manchmal sind es die gleichen Initialen, mal der zweite Vorname. Sie kennen sich da wahrscheinlich besser aus als ich.«
    »Guarnaccia, bevor der Staatsanwalt eintrifft, brauche ich…«
    »Ja. Wrothesly. Meine Zunge tut sich schwer damit, den Namen auszusprechen, aber wenn Sie ihn geschrieben sehen – und ich habe ihn schließlich geschrieben gesehen –, kann man ihn deutlich erkennen, nicht wahr? Seinen richtigen Namen. James Wrothesly, Sir Christophers Vater, war Jacob Roth. Er machte ein Vermögen damit, daß er seine jüdischen Mitbürger übervorteilte, die in den dreißiger Jahren vor den Nazis flohen. Dann änderte

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