Nachtblüten
Schweigen hinter ihm brachte ihn auf den Gedanken, daß er nicht ohne ein Wort der Entschuldigung hätte gehen sollen – oder hatte er…?
Er war schon wieder in Sir Christophers Zimmer, als der Junge zurückkam. Seine Wangen waren feucht, und die blauen Augen in dem abgespannten Gesicht ganz klein und verschwommen. Er war ein sehr viel hellerer Typ, und trotzdem, vielleicht weil er so schmächtig war, erinnerte er den Maresciallo an Toto, wenn er wußte, daß er etwas Schlimmes angestellt hatte.
Die Hand, die sich jetzt auf die zitternde Schulter senkte, war sanfter als zuvor.
»Ist schon gut. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Glaubst du mir das? Schau mich an. Glaubst du mir?«
»Ja.«
»Dann erzähl mir um Himmels willen, was passiert ist.«
Der Himmel klarte langsam auf, aber es nieselte immer noch. Prüfend trat er wieder ins Freie. Er mochte den Geruch nach nasser Erde und den Kamillenduft, der irgendwo in der Nähe aus dem nassen Gras aufzusteigen schien. Seine Mutter hatte auf den Feldern Kamille gesammelt und in Sträußen zum Trocknen aufgehängt, um später aus den Blüten Kamillentee zu kochen. Teresa kaufte ihn in Beuteln und tat Honig hinein, wenn er sich nicht gut fühlte. Man brauchte jemanden neben sich. Es ist nicht gut, allein zu sein. Man braucht eine Familie. Und das traurige an Sir Christopher Wrothesly – das allertraurigste – war, daß ihm, wäre sein Urteilsvermögen nicht durch die sogenannten Freunde getrübt worden, die ihn aus Eigennutz zu isolieren suchten, durchaus eine Familie hätte erwachsen können, eine Schwester, die nach dem Tod ihrer Mutter so dringend jemanden brauchte, der sich um sie kümmerte, daß sie sich ein Nachbarskind ›borgte‹, ein armer Verwandter, der ihn schätzte und respektierte und seinen Garten betreute, der junge Giorgio, der so dankbar war für die Errettung aus den Kriegswirren des Kosovo, der einzige, dem Sir Christophers Tod zu Herzen ging. Nun, der Maresciallo wußte jetzt, was den Jungen quälte. Wie gern hätte er all das hinter sich gebracht und wäre geflohen vor dem drückenden Gewicht der Trauer, der weichen, eindringlichen Verzweiflung auf dem nassen Knabengesicht. Er sollte wohl besser hineingehen und, während er den Regen abwartete, noch einmal überdenken, was Giorgio ihm erzählt hatte.
»Als ich ihn an seinem letzten Abend verließ, ging es ihm gar nicht gut.«
»Giorgio, warte. Setz dich. Du zitterst ja. Dort, an den Sekretär. Nein, ich brauche Bewegung.«
»Er wollte mich nicht gehen lassen. Er…«
»Sprich weiter, ich hör dir zu.« Er mochte weder über dem Jungen stehen und ihn einschüchtern, noch ihm gegenübersitzen wie bei einem Verhör. Außerdem konnte er im Aufund Abgehen die Geschichte, die er erzählt bekam, besser rekonstruieren. Jetzt machte er vor dem leeren Bett halt und sah hinunter auf die Delle im Kissen.
»Er griff mit dem linken Arm nach mir und versuchte zu sprechen, aber er konnte keine Worte mehr formen. Ich wußte trotzdem, was er sagen wollte. Der Sekretär hat mich fortgeschickt. Er drängte sich zwischen uns und nahm seine Hand, aber Sir Christopher hätte mich gebraucht. Ich war der einzige, der immer erriet, was er sagen wollte.«
»Du hast ihn gern gehabt.«
»Ich mochte ihn, ja, weil er gut zu mir war. Vor dem Schlaganfall hat er sich oft mit mir unterhalten, mich nach meiner Kindheit ausgefragt. Als ich ihm erzählte, daß mein Vater gefallen ist, schien er richtig bewegt. Meine Mutter opferte alles, was sie hatte, um mich außer Landes zu bringen. Das letzte, was sie sagte, war: ›Vergiß. Geh fort. Fang ein neues Leben an.‹ Das wollte ich auch und will es noch, aber es… ich bin so einsam. Seit der Bombardierung habe ich nichts mehr von zu Hause gehört, von keinem.
Ich habe einen Asylantrag gestellt. Eine nette Polizistin fragte mich nach meinem Werdegang. Ich spreche gut Italienisch und kann auch etwas Russisch. Ich hatte in Belgrad Medizin studiert, aber als dann die Unruhen ausbrachen, bin ich auf dem schnellsten Weg nach Hause… Die Polizistin gab mir die Nummer von Sir Christophers Anwalt. Sie sagte, in L’Uliveto habe man schon öfter Jungen wie mich aufgenommen. Aber sie warnte mich davor, daß man meine Notlage ausnutzen würde. Sie würden mich Überstunden machen lassen und mir kaum ein Taschengeld dafür zahlen, aber sie würden mir zu einer legalen Aufenthaltserlaubnis verhelfen. Es würde leichter und schneller gehen als über ein Asylgesuch, und sobald
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