Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)
ich mich auf das freie Deck des Hecks zu kommen. Es ist bitterkalt und ich kann in einiger Entfernung die Schiffsarbeiter fluchen hören, die sich um die dicken Taue kümmern, mit denen das Schiff am Hafen vertäut ist. Ich schlinge die Arme um mich und unaufhaltsam entstehen die Bilder vor meinem geistigen Auge. Es ist beinahe wie ein alter Film, dessen Bilder ich schon hunderttausendmal gesehen habe, und die ich trotzdem nicht abschütteln kann. Allerdings ist es kein guter. Die Kritiker würden ihn gnadenlos zerreißen – und womit? Mit Recht!
1954 wurde ich als erste und einzige Tochter meines Vaters in New Orleans geboren. Damals war mein Vater schon Prediger einer evangelikalen Freikirche in New Orleans. Er war ein strenggläubiger Mann und voll Ehrfurcht vor Gott. Seine einzige Autorität war die Bibel und dieser folgte er mit blindem Gehorsam. Was aus meiner Mutter wurde, weiß ich nicht. Er hat sich darüber ausgeschwiegen. Nicht einmal ein Foto habe ich von ihr. Aber das tut nichts zur Sache. Ich wurde im Pfarrhaus groß. Es hatte für den kalten Winter einen kleinen Raum für Andachten, Hochzeitsvorbereitungen und etliche andere religiöse Anlässe, die ich zu dem Zeitpunkt noch nicht ganz verstehen konnte. Ich glaube, ich bin eines der wenigen Kinder, die, wenn sie sprechen lernen, zuerst das Vaterunser und die Zehn Gebote lernt.
Unser ganzes Haus war „geschmückt“ mit Heiligenbildern. Über den Türen hingen Kreuze, teilweise mit und teilweise ohne Christus` geschundenem Körper. Auch in meinem Zimmer über der Tür hing eines dieser Monster als stiller Wächter. Christentum und Priester sein hin oder her, man sollte ein kleines Kind nicht so unter Druck setzen. Vater sagte immer „Egal was du tust, Christina, Christus und so auch Gott schauen immer zu.“ Bei solch einer Indoktrinierung wurden selbst die kleinen Dinge des Alltags zu Tortur. Ich bekam sogar Angst alleine aufs Klo zu gehen; denn auch über dem Waschbecken im Bad hing ein heiliges Marienbild.
Solange ich mich zurückerinnern kann, hatte ich als Babysitter immer eines der Mitglieder aus dem Gebetskreis meines Vaters. Anfangs wechselten sie sich ab, dann aber hatte keiner mehr Zeit, auf den kleinen Spross des Priester aufzupassens – Vergebung der Sünden hin oder her. Wahrscheinlich störte sie auch die Strenge in unserem Haus. Mein Vater war ein absoluter Ordnungsfanatiker. Sein Motto „Ora et labora“ – links oder rechts davon gab es nichts. Ich erinnere mich an Gutenachtgeschichten aus der Kinderbibel und an das immer wiederkehrende Aufsagen von Psalmen. Zusätzlich stand die ganze heilige Familie auf meinem Nachttisch; nur spielen durfte man damit selbstverständlich nicht.
Es war eher eine karge Zelle als ein Raum in dem man glücklich aufwächst. Ein Schrank, ein Bett, ein Schreibtisch und ein Nachtschränkchen. Karge Wände und dunkle Bettwäsche rundeten das Bild ab. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, dann war mein innigster Wunsch eine Puppe zum Spielen. Allerdings erst nachdem ich das Kinderzimmer unserer Nachbarn bei einer Geburtstagsfeier gesehen hatte. Es gab dort zwar nur wenige Spielsachen, aber für mich war es eine Offenbarung. Ein Zimmer voller fröhlicher Bücher, Buntstifte, einer geblümten Tapete und zwei selbstgenähten Stoffpuppen. Sie sahen so freundlich und so liebenswert aus, wie sie da auf dem Quilt saßen und uns Kinder aus ihren aufgenähten Gesichtern anlächelten. Eine lange Zeit habe ich mir Engelsgesichter genauso vorgestellt.
Ein durchdringendes Dröhnen und ein plötzliches Vibrieren im Boden reißen mich aus meinen düsteren Gedanken. Aus dem dicken Hauptschornstein steigt weißgrauer Rauch auf und die gesamte Schiffsbeleuchtung flammt auf. Waren bisher nur die Innenräume beleuchtet, so dass der Eindruck von einzelnen Lichtinseln entstanden war, stehe ich nun im Lichtermeer der Außenbeleuchtung, die sich strahlend von den Lichtern des Anlegers abhebt.
Die Kulisse ist wunderschön und als ich über die Reling hinunterschaue, merke ich zum ersten Mal, wie hoch oben und wie weit weg ich vom Erdboden bin. Höhenangst habe ich nicht, aber ein bisschen mulmig wird mir jetzt schon. Zum ersten Mal wird mir klar, dass ich im Begriff bin mein Heimatland zu verlassen. Wie lange ich fort sein werde, ob und wann ich zurückkehre, kann ich jetzt noch nicht sagen. Plötzlich habe ich einen sehr dicken Kloß im Hals. Auch wenn ich, was die Wahl meiner Wohnorte in den letzten Jahren anging,
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