Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)
lieber im Auge behalten. Irgendetwas stört mich an ihm und solche Augen habe ich auch noch nie gesehen. Aber darüber mache ich mir später Gedanken. Es ist jetzt kurz nach 19 Uhr, und das Schiff wird bald ablegen. Mit diesem Gedanken wende ich mich wieder gen Heck des Schiffes und schlendere einen langen Gang entlang, dessen Wände mit bronzenen großflächigen Reliefarbeiten aus Holz geschmückt sind. Einen Moment bleibe ich stehen und schaue sie mir etwas genauer an.
3. Es war einmal ein Mann
Mich trifft fast der Schlag und für einen Moment wird mir tatsächlich schwindelig. Mein Herz rast und wahrscheinlich würde ich jetzt entsetzt nach Luft schnappen oder sogar leicht hyperventilieren, wenn ich noch aufs Atmen angewiesen wäre. Ich starre auf das Holzrelief – wie ich vermute – vor mir und versuche meiner Gefühle Herr zu werden.
Ein Mann des Schiffspersonals in roter Jacke und schwarzer Hose bleibt neben mir stehen. „Geht es Ihnen gut, Miss? Sie sehen so blass aus.“ Er legt mir eine Hand auf den Oberarm und ich unterdrücke den Impuls, wie von der Tarantel gestochen aus dem Stand einen Satz in die Luft zu machen und ihn dabei mit gefletschten Zähnen anzufauchen. Reiß dich zusammen, Christina – sofort!
Betont langsam drehe ich mich zu dem jungen Mann um und versuche ihn schief anzulächeln.
„ Es ist nichts. Vielen Dank. Ich bin nur so ... fasziniert von den Darstellungen hier an der Wand.“ Das stimmt zwar, aber die „Faszination“ beziehungsweise die damit verbundenen Erinnerungen sind nicht positiv. Er sieht mich ungläubig an und ich improvisiere weiter.
„ Das ist meine erste Schiffsreise und ich glaube, ich habe so etwas einfach nicht erwartet. Vor lauter Aufregung, Vorfreude und ein bisschen Angst vor Seekrankheit habe ich heute noch nicht viel gegessen. Wahrscheinlich ist es einfach die Vorfreude auf ein gutes Essen hier an Bord. Mein Kreislauf ist nicht der stabilste, wenn ich aufgeregt bin, wissen Sie.“
Er mustert mich noch einmal aufmerksam und gibt sich dann zum Glück mit dieser Erklärung zufrieden. „Wir werden in Kürze ablegen, Miss. Aber seien Sie unbesorgt, man merkt es kaum. Einzig ein leichtes Vibrieren im Boden deutet darauf hin.“ Er dreht sich kurz um und deutet auf die entfernten Tore des Britannia Restaurants. „Unsere Restaurants öffnen alle kurz nachdem wir abgelegt haben. Ich hoffe, Sie finden dort etwas, das Ihnen zusagt.“
Freundlich schaue ich ihn an. „Ganz bestimmt. Danke sehr.“
„ Wenn Sie doch Hilfe benötigen, scheuen Sie sich bitte nicht, uns, das Personal, anzusprechen. Wir haben eine ausgezeichnete Krankenversorgung an Bord.“
Er verabschiedet sich und verschwindet in Richtung Lobby. Erleichtert atme ich auf und wende mich den Reliefs an der Wand zu. Sie liegen hinter einer dicken Glasscheibe, wahrscheinlich um sie vor Staub zu schützen, und sind perfekt ausgeleuchtet.
Die Reliefs zeigen klassische Bibelszenen aus dem Alten Testament. Gerade stehe ich vor einer ägyptischen Szene – das Auffinden Moses` durch die Tochter des Pharaos. Mir wird schlecht und ich ziehe eine Szene weiter. Was haben wir hier? Moses, der die Wellen für das Volk Israel teilt. Beide Szenen sind in dunklem Holz gehalten und sollen wohl durch ihre Detailtreue und Schlichtheit der Darstellung überzeugen. Mir bescheren sie Übelkeit und einen kaum beherrschbaren Brechreiz. Tapfer gehe ich weiter und finde nun Szenen aus dem griechischen Glauben. Der Göttervater Zeus nebst einem altgriechischen Tempelberg. Das ist schon angenehmer. Als ich das letzte Relief passiere, ist es jedoch endgültig vorbei. Die Designer haben eine Darstellung des Gartens Eden inszeniert. Das dunkle Holz ist Pastellfarben und Gold gewichen. Ein riesiger Regenbogen dominiert das Bild auf der einen Seite. Darunter wachsen paradiesische Pflanzen und fliegen Friedenstauben. Gegenüber ebenfalls ein farbenfrohes Bild. Hier dominiert eine gigantische Sonne die Szenerie. Ihre Strahlen fallen in eine Art Meer mit Sonnenblumen und – ich glaube, es sind Osterglocken. Auch hier haben wir Friedenstauben überall. Nebst einer kleinen Wolke über spielenden Delphinen. Was finden die Menschen bloß an solchen Darstellungen?
Es tut mir leid, aber ich kann und will damit nichts anfangen. Meine Abneigung geht weiter über bloßes „Nichtmögen“ hinaus. Das verdanke ich meinem Vater. Die Erinnerungen kommen schneller zurück, als es mir lieb ist. Um damit alleine zu sein beeile
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