Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)
ich so ausgelaugt bin, bin ich dafür auch noch anfälliger als sonst. Langsam tauen sie wieder auf und jeder Schritt schmerzt. Am liebsten wäre mir jetzt eine warme Dusche, um den Geruch und die Erinnerungen abzuspülen, und dann ab ins Bett. Aber ich habe noch eine Verabredung – zwei, um genau zu sein.
Ein Kellner hat mich entdeckt und kommt auf mich zu. Stirnrunzelnd bleibt er vor mir stehen. „Kann ich Ihnen helfen, Miss?“
„ Ja, das können Sie.“ Meine Zähne klappern unerlässlich, denn es scheint, als hätten diese letzten Momente in der Wärme mich noch mehr Kraft gekostet als die gefühlte Stunde in der Kälte vorher. Die Spannung fällt von mir ab und übrig bleibt blanke Wut, gepaart mit dem Gedanken, auch diese Situation einigermaßen überstanden zu haben. Vielleicht ist heute doch mein Glückstag. „Mir ist kalt und ich bin verabredet. Bringen Sie mich doch bitte zu den Damen vom Bridgeclub.“
Zweifelnd sieht er mich an. „Wie Sie wünschen.“
Wenige Augenblicke später stehe ich immer noch zitternd vor einem Tisch mit ein paar älteren Damen, die in eine freudige Unterhaltung vertieft sind. Berta sieht mich und springt sofort auf.
„ Miss Ashton! Was um Himmels Willen ist Ihnen denn geschehen?“
Ich muss wohl einen sehr erbärmlichen Eindruck machen, und so ganz wohl fühle ich mich tatsächlich nicht. Meine klamme Garderobe ist nicht dazu angetan, mich umzustimmen, mal davon abgesehen, dass ein großer Teil meines Unterarms unbedeckt ist. Aber wer ahnt denn auch schon einen so langen Ausflug nach einer gesellschaftlichen Verabredung voraus?
Ich lasse meinen Emotionen freien Lauf. „Ihr Enkel hat mich auf dem Promenadendeck bedrängt und mir absurderweise unterstellt, ich sei seine vermisste Schwester“, gebe ich zurück. Warum sollte ich es auch leugnen. Früher oder später kommt es ja doch heraus.
Berta zuckt zusammen und die übrigen Damen am Tisch sehen pikiert zur Seite. „Christopher hat was?“ Entsetzen steht ihr im Gesicht. „Wie lange waren Sie denn da draußen?“
Ich überlege nicht lange. „Lange genug, um mir vielleicht etwas weggeholt zu haben.“
Berta tritt auf mich zu. „Sie zittern ja wie Espenlaub, Sie Ärmste.“ Stimmt, aber das hat wohl andere Gründe. „Schnell, setzen Sie sich. Ober, bringen Sie eine Decke und einen Grog – aber einen starken.“ Berta verscheucht eine andere Dame von dem Lehnstuhl, der am nächsten zur Heizung steht, und drückt mich hinein. „So, und jetzt erzählen Sie mir das noch einmal ganz genau.“
Ich will eigentlich nicht, doch dann geschehen zwei Dinge gleichzeitig. Erstens tritt Christopher schuldbeladen mit einem Becherglas auf einem Tablett zu uns, und zweitens kommt der erste Kellner mit einer Decke zurück. Außerdem sehe ich am anderen Ende des Cafés Collin und Jessica Hand in Hand auftauchen. Dicht gefolgt von Loren und ihren sauberen Freundinnen. Weder den einen, noch den anderen möchte ich jetzt begegnen, und so bleibe ich sitzen.
Also schön. Langsam setze ich den Tee oder was auch immer es ist an meine Lippen und versuche brav einen Schluck zu trinken. Auch einen kleinen Hustenanfall täusche ich vor, was meinen lieben Halbbruder ein schuldbewusstes Gesicht machen lässt.
„ Sie gehören ins Bett, meine Liebe.“ Ja, das sehe ich ausnahmsweise auch so.
„ Ach, es wird schon gehen. Wenn ich mich jetzt aufwärme und nachher zwei starke Tabletten nehme, dann wird schon nichts passieren.“
„ Ihr Wort in Gottes Ohr.“
Kurz schließe ich die Augen um nicht lautstark und gotteslästerlich zu fluchen, dann beruhige ich mich wieder. Der zweite Kellner erscheint mit gleich noch einmal zwei Decken, und die Damen wickeln mich wie einen Säugling darin ein. Nur mein Kopf schaut noch heraus.
Als das nächste Heißgetränk kommt, geht es mir schon viel besser. Eine so rasche Genesung kann ich aber nicht erklären, also trinke ich das Getränk brav in kleinen Schlucken. Der Alkohol schmeckt nicht sehr stark heraus, ist aber definitiv in Massen vorhanden. Entschuldigung? Ich hätte gerne noch einen Schluck Wasser in meinen Alkohol …
Natürlich sage ich das nicht laut, denn die alten Damen kümmern sich rührend um mich. Als sie davon überzeugt sind, dass ich nicht in den nächsten zwei Minuten sterben oder einem schweren Fieberanfall erliegen werde, nehmen sie zögerlich ihre Unterhaltungen wieder auf. Wie rührend, gleich fünf Großmütter um sich zu haben, die einem unaufhörlich gute Ratschläge
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