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Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)

Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)

Titel: Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myrna E. Murray
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erwarten“, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und er beginnt.
     

 
     
    48. Living dead girl
     
    „ Wissen Sie, meine Schwester war ein gutes, aber verwirrtes Mädchen.“ Hört! Hört! „Unser Vater hat immer gesagt, wie sehr er meine Schwester geliebt und wie sehr er es bedauert hat, dass sie uns verlassen hat.“
    Lügner!, würde ich ihn am liebsten anbrüllen, doch ich presse fest meine Kiefer zusammen, damit nur ja kein falsches Wort über meine Lippen kommt. Er beobachtet mich aufmerksam. Also bibbere ich noch ein wenig mehr vor mich hin.
    „ Sie hatte Probleme mit Drogen“, fährt er fort. „Sie hat sich einfach mit den falschen Leuten eingelassen.“
    „ Wie … bedauerlich“, bringe ich mühsam hervor. Immer noch den Schein wahrend, dass mir kalt ist. Wobei mir das nun leichter fällt als vorher. Mein Innerstes ist zu Eis geworden in dem Moment, in der er mir offenbarte, dass er mein Bruder ist. Mein Halbbruder, um genau zu sein. Trotzdem verbindet uns wohl mehr als nur der Name. Zumindest laut genetischen Erkenntnissen, wenn ich das in den letzten Jahren richtig verfolgt habe.
    „ Können Sie sich das vorstellen? Sie ist einfach fortgelaufen. Ohne ein Wort des Abschieds oder der Erklärung.“
    So war das ja nun auch nicht …, will es unbedingt aus mir heraus und endlich erkenne ich seine Taktik. Er prüft, ob ich mich in Widersprüche verwickele oder anderweitig verrate. Was für ein cleverer Schachzug, das muss man ihm schon lassen.
    „ Unser Vater hat lange, lange nach ihr gesucht, aber sie nirgends finden können“, erzählt Christopher mir weiter. „Er hat alle seine Freunde dazu aufgerufen ihm zu helfen.“ Ja, das kann ich mir lebhaft vorstellen. „Aber sie blieb verschwunden.“
    Prüfend sehe ich ihn an. „Was für eine traurige Geschichte.“
    Eine Mauer kalter Missachtung schlägt mir entgegen, ganz im Gegensatz zu seinen Worten. „Vielen Dank für Ihr Mitgefühl.“
    „ Bitte.“
    Wir sehen uns eine Weile an und ich versuche erst gar nicht, nach seinem Geist zu tasten. „Und wie geht es weiter?“
    Er überlegt kurz. „Er hatte beinahe den Willen zum Weiterleben verloren. Doch dann traf er meine Mutter und sie wurden glücklich zusammen.“
    Ich mache einen Schritt auf ihn zu und trotz der Kälte und der vielen Schichten Garderobe kann ich leicht seinen Geruch wahrnehmen. Ja, er ist vertraut, jetzt wo ich mich darauf konzentriere.
    Ganz langsam und mit zitternder Stimme erwidere ich knapp: „Wie schön, ein Happy End.“
    Er sieht mich merkwürdig an. „Nicht ganz.“ Das war ja klar.
    „ Inwiefern?“
    „ Mein Vater glaubte immer, dass seine Tochter noch lebt und er sich irgendwann für seine Fehler bei ihr entschuldigen könnte. Er hat es wohl etwas zu streng genommen mit ihrer Erziehung.“ Das kann man wohl sagen! „Er hat mir immer wieder von ihr erzählt. Von ihrer Art zu sprechen, von ihrem Wesen und davon, wie sehr er sie vermisst.“ Sollen mir jetzt die Tränen kommen, oder was? „Bis zu seinem Tod hatte er dieses Foto stets bei sich. Es war das Letzte, was er sah, bevor seine Augen brachen. Ihr Name das Letzte, was er aussprach: Christina.“
    Ich zucke zusammen und muss diese Nachricht erst einmal verdauen. „Das ist … sehr traurig“, bemerke ich leise.
    „ Nicht wahr? Vor allem weil uns wenig später die Nachricht ereilte, dass sie tatsächlich noch leben könnte.“ Mir wird heiß und kalt bei diesen Worten. „Stellen Sie sich vor, ein Freund der Familie hatte sie gefunden und sie sah um keinen Tag älter aus als auf diesem Foto.“
    Mein Herz spielt Achterbahn und mein Puls beschleunigt sich. Diese erneute körperliche Reaktion kostet mich noch mehr meiner Kraft. Außerdem reiße ich die Augen auf und versuche möglichst überrascht auszusehen. „Aber das ist doch eine gute Nachricht für Sie, oder? Ich meine, dann können Sie sie finden uns ihr alles erzählen“, gebe ich nur mühsam beherrscht zurück.
    „ An keinem Menschen geht die Zeit spurlos vorbei.“
    Ich setze ein möglichst dummes Gesicht auf. „Da haben Sie recht. Also dann war es wohl doch nicht Ihre Schwester?“
    „ Das habe ich auch gesagt“, macht er mit einer wegwischenden Handbewegung deutlich.
    „ Aber das ist doch absurd. Wenn sie tatsächlich Ihre Schwester wäre, dann müsste sie jetzt wie alt sein?“
    Er überlegt kurz. „So um die 60, denke ich.“
    „ Sehen Sie.“ Ich versuche es mit Logik, weil mir sonst gerade wirklich nichts mehr

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