Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)
Langsam und mit hängenden Schultern kehre ich zum Tisch zurück.
„ Sie sehen nicht gut aus, Kindchen.“ Berta trifft den Nagel auf den Kopf.
„ Mir geht es auch nicht gut. Ich möchte mich entschuldigen und Ihnen einen schönen Abend wünschen.“
Alle Damen erheben sich. „Dafür haben wir vollstes Verständnis. Gehen Sie ins Bett und lassen Sie den Arzt kommen, wenn es Ihnen schlechter geht.“ Dankbar nicke ich und verabschiede mich schnell.
Auf meinem Weg hinaus aus dem Café fühle ich mich besser. Dennoch steigt unaufhörlich Wut in mir auf. Wut auf Alex und sein Bedürfnis, mir nahe zu sein. Wut auf Christopher, der mich sehr dicht an meine Grenzen gebracht hat. Wut auf meinen verstorbenen Vater, der so ein verzerrtes Bild der Realität gezeichnet hat.
Am liebsten würde ich auf etwas einschlagen oder alternativ die dummen Plakate abreißen, die für morgen Nacht eine Vampirparty ankündigen und mit denen nun das Schiff zugepflastert ist. Was soll dieser Mist eigentlich? Haben alle den Verstand verloren?
In Anbetracht mangelnder Alternativen hilft hier nur noch eins: echte Musik!
Ich haste den Gang entlang und scheitere bei dem ersten Versuch, mit der Schlüsselkarte die Tür zu öffnen. Ein Knurren entrinnt mir, doch ich reiße mich zusammen. Da! Endlich ertönt das melodische Piepen der Türentriegelung und ich gelange in die dunkle Suite. Licht brauche ich nicht. Auf dem Weg durch die Suite entledige ich mich des Kostüms und der furchtbaren Pumps und öffne zu guter Letzt den verschlungenen Knoten, in den ich meine Haare gezwängt habe. Nur weg damit!
Weg mit der Zivilisation, weg mit der Angepasstheit, weg mit der gekünstelten Affektiertheit! Jetzt will ich nur ich sein, Christina Justicia Dalton, und ich brauche frische Luft, trotz der langen Zeit auf dem Promenadendeck. Also öffne ich die Türen des Balkons sperrangelweit, so dass die eisigkalte Luft hereingelangt. Wie ein elektrisierender Schlag trifft sie auf meine nackte Haut, denn bis auf den schwarzen Spitzenslip habe ich alles von mir gerissen. Tief atme ich ein und bewusst wieder aus. Das ist ein guter Anfang.
Aber ich weiß, was mir noch fehlt, um wieder runterzukommen; um zum einen das dämliche Gequatsche dieser auftoupierten, hirnlosen Hupfdohlen von Loren und Co. sowie zum anderen die Anklagen tief in Christophers Augen loszuwerden. So, ich habe also einen Halbbruder – na herzlichen Glückwunsch! Langsam pirsche ich mich an meinen Kleiderschrank, öffne den CJ Koffer und entnehme ihm eine kleine silberne Dose.
Seelenruhig schreite ich in die immer noch stockdunkle Diele und krame Tabak und Filter aus meiner Handtasche. Mit geübten Fingern ist die Tüte schnell zusammengebaut und ich bin ein bisschen stolz auf mich.
Nur noch ein paar Schritte trennen mich von der Anlage, und mit einem Feuerzeug in der einen Hand programmiere ich die Playlist, die meinen Zwecken jetzt dienlich ist. Danach drücke ich genüsslich auf den Wiedergabeknopf. Während das leichte Surren der Anlage verkündet, dass sie mir meinen Wunsch erfüllen wird, erreiche ich den Balkon, trete hinaus und aale mich auf einem der Liegestühle. Doch halt, wenn ich die Anlage jetzt so weit aufreiße, wie ich es mir wünsche, bekomme ich ganz schnell Ärger mit Mr. Morgan.
Also noch einmal aufstehen, zurück zur Anlage hechten, das Programm kurz stoppen und die großen Funkkopfhörer herausgeholt. Mit wenigen Handgriffen ist der Kopfhörer angeschlossen und ich kann die Welt ausschließen. Mit den monströsen Dingern an den Ohren muss ich wie eine billige Kopie von Prinzessin Leia wirken, nur dass die sich wohl niemals tatsächlich nackt der Welt präsentiert hätte.
Für ein, zwei Sekunden spiele ich noch mit dem Gedanken, ganz rebellisch ein Kissen über Bord zu werfen – und dann den guten Herrn Meier darauf hinzuweisen. Wie gesagt, es sind circa zwei Sekunden und die erfüllen mich mit diebischer Freude.
Mit der Tüte in der Hand und den Kopfhörern auf meinem Haupt aale ich mich nun doch auf der Liege. Der Fahrtwind ist zwar zu merken, jedoch in dem geschützten Areal des kleinen Balkons in liegender Position nicht mehr wahrnehmbar.
Während ich das Feuerzeug zücke, dem leicht süßlichen Rauch nachspüre und hinauf in die sternenklare Nacht schaue, ertönt das Rob Zombie Intro: „Who is this irresistible creature who has an insatiable love for the dead? – Living dead girl!“
04.01.
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