Nachtengel
die Tür doch nicht abgeschlossen. Es war eine dieser automatischen Handlungen, die man sich nicht merkte. Sie musste sie wohl offen gelassen haben, weil sie wusste, dass sie in ein paar Minuten zurückkommen würde.
Sie hörte das Zischen der Pendeltür und Schritte hinter sich im Flur. Sie fuhr herum, und die freundliche Stimme des Hausmeisters sagte: »Hat sich hier einer reingeschlichen, Dr. Bishop?«
Roz atmete erleichtert auf, sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie den Atem angehalten hatte. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Wahrscheinlich nicht, aber ich möchte Sie bitten, diese Räume zu überprüfen.« Sie schilderte ihm, was sie gesehen hatte.
»Hört sich an, als sei jemand auf dem Weg zur Treppe«, sagte er. »Ich kümmere mich darum. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Roz stand einen Augenblick unentschlossen da, dann nahm sie ihre Tasche. »Ich gehe dann. Danke. Lassen Sie es mich oder Dr. Grey wissen, wenn Sie etwas finden.«
»Wird gemacht«, sagte er.
»Gute Nacht.« Roz ging auf den Paternoster zu. Falls der Fremde über die Treppe gegangen war, dann wollte sie die Aufzüge nehmen. Sie trat auf die fahrende Plattform und glitt nach unten, weg von Stockwerk N. Plötzlich hörte sie einen dumpfen Laut über sich, als sei jemand in das nächste Abteil gesprungen. Noch jemand kam von Stockwerk N herunter. Aber sie hatte niemanden gesehen. Wenn man nach unten fuhr, konnte man Wartende sehen, die in das nächste Abteil steigen wollten. Außer wenn die Person sich hinter der Ecke versteckte und dann, wenn die Plattform unterhalb der Fußbodenhöhe war, plötzlich hineinsprang.
Es war niemand auf Stockwerk N gewesen. Sie, dann der Hausmeister und dann … noch jemand. Jemand, der in dem Abteil über ihr fuhr und ihr unerbittlich nach unten zu der leeren Eingangshalle folgte – und auch zum verlassen daliegenden Parkplatz? Fast wäre sie im nächsten Stockwerk ausgestiegen, aber ihr Verfolger würde sie sehen, bevor sie außer Sichtweite sein konnte. Sie wollte nicht hoch oben im Arts Tower mit jemandem allein sein, der leise, schnell und verstohlen den Flur entlangschlich, mit jemandem, dessen Absichten sie nicht kannte.
Sie hoffte auf jedem Stockwerk, dass dort jemand wartete, der hinunterfahren wollte, aber sie glitt nur an verlassenen Etagen vorbei … Stockwerk G, leer … Stockwerk F, leer … Stockwerk E … Freitagabend gingen alle früh nach Hause, die Abendkurse fanden nicht statt, das Gebäude war völlig menschenleer. Sie holte tief Luft und sagte sich, sie müsse sich beruhigen. Wer immer es gewesen war, war ebenfalls dabei, das Gebäude zu verlassen, genau wie sie. Wenn sie im Erdgeschoss ankam, würde sie direkt zur Pförtnerloge gehen. Einer der Hausmeister war vielleicht da, und wenn nicht, würde, wer immer Dienst hatte, nicht weit weg sein.
Aber sie wollte das Gesicht der Person sehen, die ihr nach unten folgte. Sie wollte nicht allein nach Hause gehen, mit der Erinnerung an diese große, anonyme Gestalt. Sie wollte ein vertrautes Gesicht sehen und sicher sein, dass ihre Phantasie mit ihr durchgegangen war. Sie befand sich im Zwischengeschoss, und das Erdgeschoss kam näher. Sie trat aus dem Paternoster und sah sich um. Kein Anzeichen vom Hausmeister. Unentschlossenheit ließ sie erstarren, und das nächste Abteil kam herunter.
Es war leer.
14
Hull, Freitagabend
Die Küche roch nach Wein und warmem Brot. Lynne sah sich noch einmal um, ob alles in Ordnung war, und strich sich das Haar zurück, als es an der Tür klingelte. Sie ging zur Gegensprechanlage und warf dabei einen Blick in den Spiegel, und als sie hörte, dass es Roy war, der lobenswert pünktlich kam, drückte sie auf den Türöffner. Sie hörte seine Schritte auf der Treppe und machte die Tür auf, als er die letzten Stufen heraufstieg. Mit ihm wehte der Geruch nach Winter in die Wohnung. Er sagte nichts, nahm sie in die Arme, hob sie vom Boden hoch, küsste sie und presste sich in seiner dicken Jacke fest gegen sie. »Daran hab ich den ganzen Tag gedacht«, sagte er, als er sie losließ. »Nichts von der Arbeit heute Abend«, fügte er hinzu.
Lynne war etwas atemlos und schwindelig. »Es gibt Dinge, über die wir reden müssen«, sagte sie. Er sah auf sie hinunter, und eine Falte erschien zwischen seinen Augen. »Aber wir haben jede Menge Zeit.« Sie lächelte und trat zurück, sodass sie im Licht stand, das aus der Küchentür fiel. Sie sah seine Augen sich weiten, als sie die Arme über den Kopf hob, um ihm
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