Nachtengel
den Paternoster, schloss die Bürotür auf und legte den kleinen Stapel Post für den Hausmeister hin, der sie mitnehmen und über die Hauspost verteilen würde. Sie kontrollierte die Ablage, ob etwas hereingekommen war, nachdem die Sekretärinnen gegangen waren, aber es war nichts da.
Sie sah in ihrer Tasche nach, ob sie die Autoschlüssel hatte, und ging zu ihrem eigenen Büro zurück. In dem matten Licht sah sie auf den glänzenden Fliesen undeutlich und schwankend die Bewegungen ihres Schattens. Sie schaute den Korridor entlang, an den Aufzügen vorbei und zurück zu ihrer eigenen Abteilung. Irgendetwas hatte sie aufmerksam gemacht. Sie runzelte die Stirn und schaute noch einmal. War das Holbrook? Jenseits der Doppeltür bewegte sich etwas, jemand ging von ihr weg den Flur entlang, eine große Gestalt, die etwas Helles trug, einen Mantel oder Regenmantel. Irgendwie hatte sie das Gefühl, diese Silhouette schon einmal gesehen zu haben. Was war es? Sie konnte sich nicht erinnern. Wer immer es war, er sah jedenfalls nicht wie Holbrook aus, der klein war.
Aber niemand sonst sollte abends um diese Zeit hier herumlaufen. Sie zögerte einen Moment, dann ging sie auf die Pendeltür zu, um die Gestalt deutlicher sehen zu können, die war aber schon durch die zweite Tür verschwunden. In den Büros und in Lukes Raum standen viele wertvolle Geräte. Ihr Zimmer lag direkt hinter der Pendeltür, in der Richtung, in die der Unbekannte gegangen war. Sie ging leise zum Büro zurück und rief von dort den Sicherheitsdienst der Uni an.
Eine gut gelaunte Stimme grüßte sie, und der Mann hörte sich an, was sie zu sagen hatte. »Es ist vielleicht gar nichts«, sagte Roz unsicher. Sie wollte nicht unnötig Alarm schlagen. »Aber wir haben schließlich teure Anlagen hier.«
»Es wird gleich jemand dort sein«, sagte die freundliche Stimme. »Machen Sie sich keine Sorgen.«
»Das tu ich ja nicht …«, sagte sie, merkte aber dann, dass er aufgelegt hatte. Sie holte tief Luft, ging wieder auf den Flur hinaus und schloss die Tür hinter sich ab. Sie schätzte die Gefahr für die Geräte ab. Alle Räume sollten abgeschlossen sein. Joanna ließ ihr Büro nie offen. Niemand war in Lukes Zimmer gewesen außer sie selbst. Das sollte also auch abgeschlossen sein. Die Polizei hatte Gemmas Büro zugesperrt, das jetzt sowieso leer war. Hatte sie ihre eigene Tür verschlossen? Sie war ziemlich sicher, aber ein Zweifel meldete sich.
Der Flur lag dunkel und still vor ihr. Sie versuchte, sich einzureden, dass niemand da war, dass sie sich alles eingebildet hatte. Es war nur eine Bewegung im Dunkeln gewesen, und ihre Phantasie hatte den Rest erfunden. Sie ging am Aufzug vorbei und zu der Pendeltür, die in ihre Abteilung zurückführte. Der Korridor lag still und leer im matten Schimmer der Notbeleuchtung. Sie zögerte einen Augenblick, dann stieß sie die Tür auf und horchte. Nichts. Sie sah die geschlossenen Türen im Korridor – Joannas und ihr Büro –, das war Joannas Chefbereich. Und um die Ecke herum Gemmas Büro, Lukes Zimmer und das Besprechungszimmer. Mit einem Quietschen der Feder schloss sich die Pendeltür leise zischend hinter ihr. Sie horchte wieder. Nichts als Stille und das schwache Summen des Lichts. Die Tür zum Treppenhaus war rechts von ihr. Unentschlossen blieb sie stehen. Vor ihr war die Ecke – dunkel, still und unwiderstehlich.
Sie wusste, dass niemand da war, aber zwischen ihren Schultern prickelte es, und die Härchen auf ihrem Arm sträubten sich. Sie machte einen Schritt, dann noch einen, war fast an der Ecke und hielt die Schlüssel in der Hand. Etwas klapperte, als der Aufzug losfuhr. Sie zuckte zusammen, die Schlüssel fielen ihr aus der Hand und landeten klirrend auf dem Boden. Ihr Herz fing vor Schreck an zu hämmern, und sie musste stehen bleiben, um wieder zu Atem zu kommen. Idiot!
Dann glaubte sie, etwas zu hören, etwas, das sich im Korridor von ihr wegbewegte, auf die Aufzüge zu – oder bildete sie sich das nur ein? Sie ging um die Ecke, und der leere Korridor lag vor ihr. Automatisch drückte sie die Türklinken. Joannas Tür. Abgeschlossen. Ihre Tür …
Sie ging auf. Roz sah sich um. Der Raum war leer, das Stand-by-Licht des Computers leuchtete im Dunkel. Sie drückte auf den Lichtknopf. Der Schreibtisch war genauso, wie sie ihn verlassen hatte, die Arbeit für morgen ordentlich aufgestapelt. Der Aktenschrank war – sie probierte – abgeschlossen. Sie überlegte. Vielleicht hatte sie
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