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Nachtengel

Titel: Nachtengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danuta Reah
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sie in die Stadt zurückgehen und einen Bankautomaten suchen sollte, aber es begann, stärker zu regnen, und ihre Fahrkarte hatte sie ja schon gekauft. Sie konnte Geld von einem der Automaten am Bahnhof in Sheffield abheben. Und wenn sie den Bus nahm, würde es sowieso reichen, um nach Hause zu kommen.
    Sie ging auf dem leeren Bahnsteig auf und ab, die Minuten zogen sich in die Länge, fast war sie für die unbehagliche Kälte dankbar. Ihre Gedanken waren losgelöst, in einer Art Schwebezustand, und sie wollte, dass es so blieb. Über den vergangenen Tag wollte sie nicht nachdenken und fragte sich, was sie tun könnte, wenn sie nach Hause kam. Den Gedanken, in ihre Wohnung, in die leere Stille zurückzukehren, konnte sie kaum ertragen. Bis sie ankam, würde es zu spät sein, um Freunde zu besuchen, die ihr Gesellschaft leisten könnten, und es gab sowieso nur einen Menschen auf der Welt, mit dem sie reden wollte. Das war Luke.
    Hull, Samstagabend
    Anna saß in der Dunkelheit. Sie hatte vor sich hin geträumt, und jetzt holten die Stimmen sie in die Wirklichkeit zurück. Einen Moment war sie verwirrt, dann erinnerte sie der Staubgeruch der Decke, dass sie auf dem Dachboden der Beratungsstelle war. Automatisch sah sie auf ihr Handgelenk, aber während der letzten paar Tage hatte sie irgendwo ihre Uhr verloren. Sie konnte sich nicht erinnern, welcher Tag es war, und die hinter ihr liegenden Tage trudelten in wirren Bildern an ihr vorbei.
    Sie fror. Ihre Gedanken schienen scharf und klar, aber seltsam losgelöst, als schwebe ihr Kopf irgendwo über ihr. Unten auf dem Treppenabsatz hörte sie undeutlich Stimmen. Sie horchte. Eine sprach laut und abgehackt, die andere leiser, ein Murmeln, das auf das dringliche Stakkato antwortete.
    »… muss fort.«
    »Wir können … auf die Straße setzen.«
    »Polizei … Ärger … Fragen …«
    »… eine Unterkunft. Morgen … noch einen Tag …«
    Sie verstand nur hier und da ein paar Wortfetzen. Nasim und Matthew sprachen über sie. Die Polizei. Ärger. Sie dachte an die dunklen Straßen und die Blicke, die auf ihr ruhten, und … Angel, der irgendwo wartete, irgendwo da draußen in der Nacht. Panische Angst erfasste sie.
    »Ein paar Tage«, hatte Matthew versprochen. Ein paar Tage. Aber Nasim sprach von der Polizei. Die Polizei. Die Polizei hatte weggesehen, als die Männer kamen. Sie hatten Annas Vater gesagt, er solle weggehen, aber er wollte nicht. Seine Freunde, seine Nachbarn, sagte er. Es waren doch nur Stammtischreden und Politik. Die Probleme würden nicht bis zu ihnen kommen. Es würde vorbeigehen, so wie es auch in der Vergangenheit gewesen war. Dann hatten die Männer ihn mitgenommen, und die Polizei sah weg.
    »Sie werden dich nicht einfach zurückschicken, Anna«, hatte Angel ihr gesagt. »Du weißt schon, was sie mit einem jungen Mädchen wie dir tun werden. Dann werden sie dich einsperren – du darfst nicht hier bleiben und das tun, was du tust. Du hast Glück, dass du mich hast, Schätzchen. Ich sorge für dich.«
    Aber das hatte er nicht getan. Und sie hatte Angels Freund verletzt, vielleicht umgebracht. Matthew hatte sie nichts davon erzählt. Angel war auf der Suche nach ihr. Sie war hierher gekommen, und sie hatten ihr geholfen. Sie hatten keine Fragen gestellt, hatten ihr zu essen gegeben und Kleider und eine Unterkunft.
    Und jetzt war jemand auf der Suche nach ihr. Auch die Polizei suchte sie. Sie sah den Schatten eines leicht gewölbten Duschvorhangs vor sich, spürte, wie Panik sie erfasste, und zwang sich zur Ruhe. Die merkwürdige Losgelöstheit half ihr. Ihr Bewusstsein schien davonzutreiben. Sie brauchte Geld. Wenn sie schnell Geld bekommen könnte, dann würde sie fliehen. Sie konnte nach … Sie überlegte, von welchen Orten sie die Leute hatte reden hören. Sie könnte nach London gehen – dort könnte sie leicht Arbeit finden. All die vielen Hotels, Pubs, Bars, Cafés würden Leute brauchen. Sie konnte dort Arbeit suchen, wo keine Fragen gestellt wurden. Oder sie könnte in eine der anderen Städte gehen – Manchester, Edinburgh, Glasgow. Alles Orte, wo man untertauchen und sein Leben fristen konnte. Aber Matthew hatte gesagt: »Ein paar Tage … Du könntest bleiben …«
    Sie schaltete das Licht an, die dicht verhängte Lampe warf einen matten Schein in den Raum. Sie hörte Schritte auf der Treppe und Klopfen an der Tür. »Ja?«, sagte sie.
    Matthew steckte den Kopf in die Tür. »Anna?«, flüsterte er leise. »Kann ich

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