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Nachtengel

Titel: Nachtengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danuta Reah
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Hätte sie das gewusst, hätte sie sich nie von ihm getrennt und auch nie zugelassen, dass er sie verließ.

17
    Sheffield, Sonntagvormittag
    Zwischen der Universität und dem Krankenhaus stehen Steinhäuser mit schweren Torpfosten und großen Gärten. Die alten Bäume zwischen den Häusern spenden mit ihrem dichten Laub im Sommer Schatten und strecken im Winter ihre nackten Zweige wie Arme eines Skeletts in den Himmel. Die Straßen sind eine Mischung aus Geraden, Bögen und Sackgassen, typisch für eine Wohngegend, deren Häuser große, hohe Räume und Gärten haben. Am Wochenende sind die Seitenstraßen so ruhig, dass Kinder dort spielen, von Haus zu Haus laufen und mit ihren Fahrrädern oder Skateboards fahren oder Fußball spielen können.
    Während der Woche wimmelt es hier von Studenten, die ihre Autos entlang den Gartenmauern parken und es schwierig machen, den Gehweg zu benutzen. In fast jedem Haus ist ein Büro oder ein Seminar der Universität mit einem unauffälligen Schild an der Wand untergebracht: University of Sheffield, Department of Cultural Studies, University of Sheffield, European Studies. Eine Sackgasse mit Kopfsteinpflaster verläuft zwischen der alten Kirche, die als Studiotheater genutzt wird, und einem Platz mit reizlosen Reihenhäusern. Während der Woche ist es für Autofahrer auf der Suche nach einem Parkplatz schwierig, in diese Straße hineinzufahren. Denn die Autos sind oft in doppelter Reihe geparkt, und es gibt keinen Platz zum Wenden, sodass dem Fahrer nichts anderes übrig bleibt, als auf die dicht befahrene Durchgangsstraße zurückzustoßen. Aber an Wochenenden, besonders an Sonntagen, sind diese Straßen verlassen und öde, die Häuser verschlossen und gegen Eindringlinge abgesichert und die Gehwege menschenleer.
    Durch die alten Gärten führen Pfade und Gänge, die den Weg von einem Institut zum anderen verkürzen. Dazu gehört auch ein Weg mit hohen Mauern an beiden Seiten, der an einem roten Backsteingebäude hinter der Straße entlangläuft, wobei die Mündung der Sackgasse in die Straße einen rechten Winkel bildet.
    Das Unwetter der vergangenen Nacht war noch nicht ganz vorbei. Ein scharfer Wind schlug jedem entgegen, der an diesem Morgen auf die Straße musste, und immer wieder prasselten Regenschauer auf die Gehwege und an die Fenster. Es war ein Tag, an dem man einen Blick aus dem Fenster warf und sich dann am liebsten wieder ins Bett legen würde. Die Frau, die die Sackgasse entlangging, hatte sich fest in ihren Mantel gewickelt und dachte an ihr warmes Bett, das sie eine halbe Stunde zuvor verlassen hatte. Nicht einmal im Traum hätte sie daran gedacht, nachts den Durchgang zu benutzen, aber am Tag war er eine praktische Abkürzung von ihrer Wohnung zu ihrem Institut. Sie war Wissenschaftlerin, arbeitete in einem der alten Steinhäuser, und der Sonntag war für sie nur ein weiterer nützlicher Arbeitstag. Es schien eine Sünde, für eine so kurze Strecke das Auto zu nehmen, nur zehn Minuten zu Fuß, wenn man die Abkürzung nahm, aber als ein weiterer Regenschauer ihr ins Gesicht schlug, überlegte sie doch, ob sie nicht ein Mal gegen ihre Prinzipien hätte verstoßen sollen.
    Der Boden war durchgeweicht, und der Regen hatte den Weg in eine gefährliche Mischung aus Schlamm und heruntergefallenen Blättern verwandelt. Die Sackgasse, ein Flickenteppich aus reparierten Teilstücken und altem Kopfsteinpflaster, war nicht gekehrt worden und sehr glatt. Als sie die Gasse betrat, roch die Luft zwischen den hohen Mauern modrig, und das graue Licht des Wintermorgens schien hier noch düsterer. Sie wickelte den Schal fester um ihren Hals und ging vorsichtig die schmale Gasse entlang.
    Hier im grauen Dämmerlicht war es still. Die Wände hielten den Lärm der Stadt ab, das ferne Dröhnen des Verkehrs, das Brummen der Flugzeuge, die Kirchenglocken – alles Geräusche, die man erst wahrnahm, wenn sie schon fast vorüber waren. Die plötzliche Stille machte ihr bewusst, wie allein sie war. Sie sah zum Anfang der Gasse zurück und zum helleren Licht an ihrem Ende und beschleunigte ihre Schritte.
    Ein undefinierbarer Haufen versperrte den halben Weg. Es sah wie ein Stoß Blätter und Abfall aus, sie machte einen Bogen darum und versuchte zu verhindern, dass ihr Mantel an der abbröckelnden Wand entlangstreifte. Ihr Fuß glitt durch die Blätter und stieß in den Haufen, der sich bewegte, und sie spürte etwas Klebriges, Feuchtes ihr Schienbein berühren. Sie zog den Fuß zurück,

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