Nachtengel
ihrem Besuch bei ihrer Schwiegermutter und Nathan und von den achtzehn Monaten nach Nathans Krankheit, als sie versucht hatte, für ihn zu sorgen, die achtzehn Monate, in denen das Chaos immer mehr zunahm und darin gipfelte, dass er sie angriff und sie die steile Treppe hinunterstürzte. »Danach habe ich aufgegeben«, sagte sie. »Ich wusste, dass ich nichts mehr tun konnte. Er musste in ein Heim. Ich schaffte es nicht. Ich glaube, Jenny wird mir nie vergeben.«
»Hast du in deinem angeblich so klugen Kopf mal die Idee gehabt, dass sie vielleicht Verständnis haben könnte? Wenn er dich überhaupt nicht kennt, wenn er solche Angst vor dir bekommt, dass er dich angreift, was kannst du dann machen?« Seine entrüstete Stimme erinnerte sie an den alten, ihr vertrauten Luke.
»Warum hast du mich nicht angerufen?«, fragte sie. »Als ich dir die Nachrichten hinterlassen habe? Ich habe die ganze Zeit auf deinen Anruf gewartet, aber es kam keiner.«
Er sah auf sie hinunter. »Welche Nachrichten?«
»Die ich auf den Anrufbeantworter gesprochen habe. Ich habe nur gesagt, dass ich nicht glaubte … du weißt ja.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Nachrichten bekommen. Deshalb war ich ja so wütend auf dich. Zuerst sagst du, dass du glaubst, ich hätte jemanden umgebracht …«
»Das hab ich nicht gesagt«, widersprach sie. »Nie hab ich das gesagt.«
»Sei still und hör zu. Zuerst sagst du mir, ich sei ein Mörder, und das Nächste ist, dass du um Mitternacht an meine Tür schlägst und von Dateien und von Grey faselst und dass es dir Leid tut. Ich habe nie Nachrichten bekommen.« Darüber zu reden brachte sie in die Wirklichkeit zurück, und er runzelte die Stirn, verlegen und an etwas erinnert, woran er nicht denken wollte. »Roz, wieso hast du – auch nur eine Sekunde lang – gedacht, dass ich Gemma verletzt haben könnte? Seit meiner Kindheit habe ich nie gegen irgendjemanden die Hand erhoben.«
»Nathan hat auch nie gegen jemanden die Hand erhoben«, sagte sie. »Und dann hat er mich bewusstlos geschlagen, und ich brach mir das Fußgelenk. Ich dachte nie … Und plötzlich warst auch du anders. Und dann die Bilder. Ich hatte das Gefühl, dich nicht mehr zu kennen.«
»Die Fotos.« Er lachte leise, klang aber zugleich verärgert. »Ich wollte es dir an dem Abend damals sagen, aber dann ist mir der Geduldsfaden gerissen.«
Sie erinnerte sich an den Abend in der Küche, als er von dem Verhör bei der Polizei in Hull zurückgekommen war. »Was wolltest du mir sagen?«
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte er. »Ich glaube, ich hab mich wie ein Vollidiot benommen, und ich weiß nicht, was ich machen soll.« Er legte sich aufs Kissen zurück. »Ach, Mist. Ist das ein Schlamassel. Ich habe ihnen einen Teil erzählt, aber sie glaubten mir nicht. Ich habe jedenfalls das Gefühl, dass sie mir nicht glaubten.«
»Was hast du ihnen erzählt?« Roz schüttelte ihn. »Luke, was ist los?«
»Okay.« Er stützte sich auf den Ellbogen, sah auf sie hinunter und strich an ihrem Arm auf und ab. Dann blickte er aus dem Fenster. »Es war nie eine intensive Sache zwischen mir und Gemma. Ich war so wütend auf dich, Roz. Was, zum Teufel, wolltest du von mir? Ich verstand es nicht. Und sie vermisste ihren Freund in Nowosibirsk. Sie würde ihn ewig lang nicht sehen, außer wenn sie von irgendwoher ein zusätzliches Stipendium bekam.« Er verzog das Gesicht. »Ich bin ein solches Arschloch. Ich wollte dir zeigen, dass ich nicht auf Abruf zur Verfügung stand, wann immer du mich wolltest. Und ihr Typ war dabei, sich scheiden zu lassen. Es war ein komplettes Durcheinander.«
»Stefan Nowicki«, sagte Roz.
Er schien überrascht. »Woher wusstest du das? Hat Gemma es dir erzählt?«
Roz schüttelte den Kopf. »Ich hab's erraten. Er war ihr Chef.«
Luke grinste. »Guter Gott, bin ich froh, dass ich nicht mit meiner Chefin schlafen musste. Okay, ja, er war es. Wir haben uns also zusammen besoffen, Pillen geschluckt, unseren Kummer ertränkt …«
»Du meinst, du warst gar nicht … Du hast nicht … Es war nichts mit Sex?« Während sie sprach, spürte sie den scharfen Stich der Eifersucht. Sie hätte gern geglaubt, dass er und Gemma kein Verhältnis gehabt hatten.
»Ach, sei doch nicht so naiv, Roz. Natürlich war etwas. Es ist die beste Methode, die ich kenne, um seinen Kummer zu verdrängen. Aber sie wollte ja nach ein paar Monaten gehen, oder schon früher, sobald sie die Möglichkeit bekäme.« Er
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