Nachtengel
Joghurt, Kaffee und Toast bestand. Sie stand lieber eine Stunde früher auf, um den Tag gemütlich zu beginnen. Sie saß am Fenster und sah die Flussmündung im Dunst verschwinden und wieder auftauchen. Im Sommer würde sie auf dem kleinen Balkon sitzen, die Seevögel beobachten und das Salzwasser riechen können; selbst bei dem verschmutzten Wasser des Humber und einem verunreinigten Meer wie der Nordsee lohnte es sich, so nah am Wasser zu wohnen. Sie dachte an den Freitagabend mit Roy, lächelte und streckte sich. Sie fühlte sich gut.
Die ganze Fahrt zur Arbeit über war sie in Gedanken am Meer, und das machte auch ihren routinemäßigen Papierkram erträglicher, den sie um halb neun aus ihrer Ablage nahm. »Herrgott«, murmelte sie ihrer Assistentin zu, »wer denkt sich nur all das Zeug aus?« Farnham hatte einen Karton mit Unterlagen herübergeschickt, die aus Gemma Wisharts Wohnung stammten. Er hatte eine Notiz beigelegt, dass seine Ermittlungsgruppe nichts Relevantes gefunden habe, aber ob sie sich die Sachen vielleicht ansehen wolle. Auch der Bericht des Experten aus York war dabei, den Farnham gebeten hatte, das Katja-Tonband noch einmal zu analysieren. Sie öffnete den Bericht, denn sie war neugierig, wie Gemma Wisharts Kollege ihre Vorbehalte sah. Aber er ergab nichts Neues. Seine Erkenntnisse bestätigten nur die ursprünglichen Ergebnisse: Katja sei russische Muttersprachlerin, wahrscheinlich aus Ostsibirien. Es gab Einzelheiten auf dem Band, die er nicht erklären, kurze Abschnitte, Worte und Sätze, die er nicht einordnen konnte. Er nahm an, dass die Sprecherin zweisprachig aufgewachsen war und eine der vielen regionalen Sprachen kannte, die in diesem riesigen Gebiet neben Russisch gesprochen wurden, aber er war nicht in der Lage, zu sagen, welche es war.
Sie betrachtete den Stoß Unterlagen vor sich: Briefe, Terminkalender, Notizbücher mit Notizen zur Forschungsarbeit, Artikel – eine Ansammlung von Papieren, die eine Wissenschaftlerin gesammelt hatte, weil sie sie für wichtig gehalten hatte.
Also gut, die Terminkalender aus der Zeit vor Wisharts Reise nach Russland konnte sie weglegen. Die Briefe waren nach Datum und Absender geordnet. Lynne legte alle Briefe aus den Jahren '97, '98 und '99zur Seite. Die Forschungsnotizen bezogen sich auf Wisharts Reisen in Russland und waren sorgfältig beschriftet: April 1998, Nowosibirsk; Juli 1999, Dudinka. Es waren vier Hefte. Vielleicht würden die Terminkalender oder die Briefe helfen, die Suche einzugrenzen.
Die Terminkalender bestanden nur aus einer Auflistung beruflicher Termine und Besprechungen ohne persönliche Notizen oder Kommentare. Sie erinnerten Lynne an ihre eigenen Terminkalender, die mehr aussagten, aber nur dem etwas bedeuteten, der den Stellenwert der Namen und Orte kannte. Lynne breitete die Landkarte aus und vertiefte sich in die Gebiete, wo Gemma Wishart gearbeitet hatte. Sie überprüfte die an den Rand geschriebenen Notizen auf der Niederschrift. JO. Konnte das ein Ort sein? Es gab eine Stadt Östlich von Gorki, die Joschkar-Ola hieß, aber sie war Hunderte von Kilometern von dem Gebiet entfernt, das Gemma bereist hatte. Sie machte sich eine Notiz, dem weiter nachzugehen, und widmete sich wieder der Landkarte. Gemma hatte einige Zeit in Nowosibirsk und in Dudinka verbracht. Dudinka lag am Jenissei – aber das ergab nicht ›JO‹.
Ob es sich wohl lohnte, die Hefte mit den wissenschaftlichen Notizen durchzugehen? Lynne sah sich allerdings im Moment dazu nicht in der Lage. Sie betrachtete die Inhaltsübersicht. Gemma Wishart hatte zu jedem Heft den ungefähren Inhalt angegeben. In den Heften selbst fanden sich detailliertere Notizen über die Herkunft der Leute, mit denen sie gesprochen hatte, und in manchen Fällen die Abschrift der Tonbandaufnahmen. Sie sah sich die Inhaltsübersicht des Hefts an, auf dem Dudinka stand:
1. Männlich, 63, Fischer, Russisch, Nenzisch
2. Weiblich, 19, Fabrikarbeiterin, Russisch, Nenzisch, Englisch (Grundkenntnisse)
3. Weiblich, 31, Landvermesserin, Russisch, Englisch
4. Männlich, 16, Schüler, Russisch, Ostyakisch, Deutsch (Grundkenntnisse)
5. Weiblich, 18, Studentin, Russisch, Ketisch, Englisch (Grundkenntnisse)
6. Weiblich, 21, Lehrerin, Russisch, Selkupisch
Es gab zwei Hefte für Nowosibirsk, eines für Dudinka und eines für Igarka. Sie fotokopierte die Seiten mit der Inhaltsübersicht. Vielleicht sollte sie Greenhough diese Hefte durchsehen lassen, ob er herausfinden konnte, was Gemma
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