Nachtengel
»Sie kann Paschtu – das wird in Afghanistan gesprochen. Deshalb wurde sie gebeten, hier mitzuarbeiten.«
Sprachen, dachte Lynne. Katjas gebrochenes Englisch, Gemma Wisharts Spezialwissen, die Unklarheiten auf Katjas Band. Und Nasim Rafiq, die durch ihre Muttersprache in das komplexe Netz dieses Falls hineingezogen worden war. Aber war es so einfach? Farnham schob Anna Krlezas Foto über den Tisch. Rafiq wandte den Blick ab. Er hielt eine Hand über das Foto und schaute nicht darauf, sondern blickte Rafiq schweigend an, so als überdenke er gerade etwas. »Matthew Pearse«, sagte er nach einer Weile. Sie reagierte nicht, sondern wartete auf seine Frage. »Sie arbeiten seit fünf Monaten mit ihm zusammen?« Sie nickte. »Wissen Sie, wo er ist?«, fragte er schnell.
»Er …«, fing sie vertrauensvoll an zu sprechen, dann runzelte sie die Stirn. »In Beratungsstelle?« Farnham schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte sie. Farnham wartete einen Moment in der angespannten Stille, bevor er weitersprach. »Matthew Pearse – ist er in Ordnung?« Sie sah ihn verständnislos an. »Macht er gute Arbeit?«
Sie blinzelte überrascht. »Er ist sehr gute Mann«, sagte sie. »Er …« Sie breitete ratlos die Hände aus. Ihr Englisch war nicht gut genug, dass sie erklären konnte, was sie meinte.
Farnham wandte sich nicht an die Dolmetscherin. Er schob Rafiq über den Tisch das Bild hin. Sie sah es nicht an, sondern beobachtete ihn. »Gute Menschen«, sagte Farnham. »Es ist leicht, gut zu sein, zu seinen Prinzipien zu stehen …« Er sah die Dolmetscherin an und wartete, während sie rasch mit Rafiq sprach. Dann fuhr er fort: »… zu seinen Prinzipien zu stehen, wenn man nichts zu verlieren hat.« Farnham schob das Foto zerstreut auf dem Tisch herum. »Haben Sie Kinder, Mrs. Rafiq?«
Der plötzliche Themawechsel brachte sie aus der Fassung. Sie sah ihn an, dann Lynne, die sich nichts anmerken ließ, dann wieder Farnham. Sie wirkte unsicher. »Eins, Junge.«
»Wie alt ist Ihr Junge?« Farnhams Stimme klang unbeteiligt.
Rafiq sah ihn und dann Lynne an. Ihre Ruhe schien jetzt der Resignation zu weichen. »Sechs Jahre«, sagte sie.
Er nickte, um ihr zu zeigen, dass er das schon wusste. »Es ist wichtig für Ihren Sohn, Mrs. Rafiq, nicht wahr, dass Sie hier bleiben können? Sie und Ihre Familie?« Sie sah ihn schweigend an. »Es ist doch so?« Sie zuckte zusammen, weil seine Frage so plötzlich kam und so scharf klang.
»Ja. Ist sehr wichtig.« Ihre Stimme zitterte leicht.
Er schob das Foto zu ihr hin, sie sah ihm aufmerksam zu. »Mrs. Rafiq«, sagte er, »ich werde Ihnen diese Frage nur ein Mal stellen, überlegen Sie sich also die Antwort gut.« Sein Tonfall war nüchtern, ohne Mitgefühl. »Kennen Sie diese Frau?« Rafiq sah ihn an, dann wieder Lynne. Schließlich blickte sie auf das Foto hinunter, schloss die Augen, schluckte. Sie fing an, den Kopf zu schütteln. »Mrs. Rafiq«, sagte Farnham.
Ihre Blicke trafen sich. »Ich kenne sie«, sagte sie.
Nasim Rafiq kam aus dem Nordwesten Pakistans. Sie hatte angefangen, ehrenamtlich zu arbeiten, aus dem Grund, den sie angab: Um besser Englisch zu lernen, denn sie musste besser werden, wenn sie unterrichten wollte. Asiaten waren in Hull in einer schwierigen Situation, erklärte sie. Es gab hier keine Gemeinschaft wie in anderen vergleichbaren großen Städten, wo die Menschen einander helfen konnten. Die Asiaten in Hull waren meistens Menschen wie sie, isoliert und noch nicht lange hier, aus beruflichen oder familiären Gründen hergekommen.
Im Rahmen des Programms, das die Asylsuchenden im Land verteilte, plante man, afghanische Flüchtlinge nach Hull zu schicken, also war sie mit ihren Kenntnissen des Paschtu sehr willkommen. Die Beratungsstelle war noch im Aufbau, man erwartete keine Neuankömmlinge, bevor das Gebäude notdürftig wieder hergerichtet war, und sie war überrascht, dass bereits ein paar Menschen kamen. Matthew Pearse, der offenbar das Möbellager verwaltet hatte, erklärte ihr, dass die Menschen in Not seien und er sie nicht wegschicken wolle. Sie machte sich an die Arbeit und übersetzte die städtischen Merkblätter des Sozialamts in Paschtu und hatte unter Matthews unaufdringlicher Aufsicht kaum auf das Kommen und Gehen in der Beratungsstelle geachtet. Sie machte die Arbeit gern und freute sich darauf, dass das Zentrum bald seine eigentliche Arbeit aufnehmen würde. Wenn sie allein zu Hause saß, während ihr Mann bei der Arbeit und ihr
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