Nachtengel
zurückgeblieben. Ihr Hals tat so weh, dass sie kaum schlucken konnte. Sie zwang sich, Wasser zu trinken. Ihre Arme und Beine schmerzten, und sie streckte sie aus. Sie rollte von der Matratze herunter und stand auf. Vielleicht würden die Schmerzen nachlassen, wenn sie herumging.
Sie stieß die Tür am Ende des Korridors auf und trat in den größeren Raum, den sie am Abend zuvor mehr erahnt als gesehen hatte. Die Steinplatten waren kalt und sandig. Das Rascheln ihrer Fußsohlen machte ein Geräusch auf dem Stein, das in der Stille widerhallte. Ihre Augen gewöhnten sich jetzt an die Dunkelheit, sie hatte das Gefühl, sich in einem großen Raum zu befinden, in dem alles höher und weitläufiger war, als sie zuerst gedacht hatte. Der Raum hatte einen Steinboden, die Wände waren krumm und aus bröckelndem Backstein, die Steinplatten des Fußbodens verloren sich in der Dunkelheit, und die Decke wurde von Säulen aus Backsteinen gestützt. Oben an den Wänden liefen Fenster entlang, schmale, senkrechte, dreckverkrustete Schlitze, die von außen vergittert waren. In dem Licht, das durch die Fenster hereinfiel, glänzte die Wand wie von herabsickerndem Wasser.
Ihre Phantasie erschuf Töne und Bewegungen um sie herum. Sie glaubte, etwas weiter weg in dem Keller in der kalten Schwärze etwas atmen zu hören. Etwas stand in der Dunkelheit am anderen Ende des Gangs, der zwischen den Säulen verlief. Sie ging näher heran, vorsichtig, damit sie im Dunkeln nicht an verborgene Gegenstände stieß.
Es war ein Steintisch, wie sie als kalte Lagerfläche für verderbliche Lebensmittel benutzt werden. Sie erinnerte sich an solche Tische in den Schuppen ihres Elternhauses. Über dem Tisch war ein Holzrahmen in die Decke eingelassen. An einem solchen Rahmen hatte ihre Mutter die geräucherten Schinken aufgehängt. Es war merkwürdig, diese vertrauten Gegenstände in dieser kalten, stillen Umgebung zu sehen. Hinter dem Tisch war eine Tür, die leicht aus der Wand herausragte, sie war schmal und aus schwerem, von Rost zerfressenem Eisen, von dem die Farbe abblätterte. Sie sah aus wie die Tür zu einem alten Kühlhaus, einem begehbaren Kühlschrank. Der Keller musste früher einmal als Lagerraum für Lebensmittel genutzt worden sein. Sie zog an dem Griff, und die Tür öffnete sich quietschend, ließ sich aber unerwartet leise und leicht bewegen, sodass sie ins Schwanken geriet. Dann roch sie Fäulnis, etwas hatte angefangen, sich in dem abgeschlossenen Raum zu zersetzen. Sie erhaschte einen Blick, während die Tür zufiel, und sah, dass die massiv verkleideten Wände einen sargähnlichen, dreckverkrusteten Innenraum bildeten. Sie fragte sich, was hier wohl gelagert worden sein mochte.
Über ihrem Kopf bewegte sich etwas an den Fenstern entlang und warf dunkle Schatten auf den Mittelgang. Sie wurde starr, als die Schatten stehen blieben, aber sie gingen weiter. Sie beobachtete aufmerksam die Fenster, sah aber kein weiteres Zeichen von Bewegung. Selbst wenn jemand vorbeiging – wer konnte wissen, dass sie hier war? Solange sie sich ruhig verhielt, war sie in Sicherheit. Nur noch ein paar Stunden, bis Matthew zurückkam. Ihr Hals war wieder trocken und tat weh, und auch die Schmerzen in Armen und Beinen wurden schlimmer. Sie ging in den kleinen Raum zurück, legte sich hin und ließ die Stunden langsam vergehen. Er würde bald zurückkommen. Er hatte es gesagt.
Er hatte es versprochen.
Sheffield, Sonntagabend
Es war nach Sonnenuntergang, die Straßenlaternen schienen auf die nassen Straßen, und die Gehwege glänzten noch vom Regen, als Luke und Roz nach Pitsmoor zurückfuhren. Der Regen hielt die Menschen in den Häusern, die Straßen um ihr Haus herum waren praktisch leer. Ein paar Jugendliche hielten sich in dem kleinen Park auf, eine Frau schob einen Kinderwagen, ein Nachbar arbeitete unter der Motorhaube an seinem zerbeulten Auto. Luke stellte sein Motorrad an der Seite des Hauses ab. Während sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel kramte, sah sie zu den Fenstern des leer stehenden Nachbarhauses hinauf. Sie waren schwarz und leer.
Als sie die Haustür aufmachte, kam ihr das Haus merkwürdig vor, so als wäre sie länger als anderthalb Tage weg gewesen. Das Durcheinander, das sie bei ihrem eiligen Aufbruch hinterlassen hatte, war noch da: Die Tasche, deren Inhalt sie auf der Treppe ausgekippt hatte, als sie versuchte, ihren Reserveschlüssel zu finden, die Gelben Seiten lagen geöffnet beim Telefon, und die Post vom Samstag
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