Nachtengel
ausgesprochen wurden. Sie musste sich auf Gemmas Niederschrift verlassen. Wenn sie nicht wussten, um welche Sprache es sich handelte, konnten sie die Aussprache nicht herausbekommen. Und wenn sie die Wörter nicht korrekt aussprechen konnten, würden sie nicht im Archiv zu finden sein.
Ihre Gedanken fingen an, sich zu ordnen. Gemma musste gewusst haben, welche Sprache es war, wenn sie es so niedergeschrieben hatte. Jugun – das hatte sie vielleicht geraten –, ein Versuch, die Aussprache zu treffen. Allerdings schrieb Gemma Wörter, die sie nicht erkannte, normalerweise in Lautschrift. Das taten alle. Aber Ba-yi-n-sal . Sie musste gewusst haben, welche Sprache das war, was sie im Holbrook-Archiv suchte. Eine Übersetzung hatte sie dort nicht finden können. Etwas ließ Roz jetzt nicht mehr los. Etwas, das sich klären würde, das …
»Gemma hat nicht nach der Übersetzung gesucht«, sagte sie. »Und sie wusste, welche Sprache es war.«
Luke hielt inne und kam zu ihr herüber. »Okay«, sagte er langsam. »Wie hast du das rausgekriegt?«
Sie erklärte, wie sie darauf gekommen war. »Und pass auf, Holbrook sagte, dass Gemma ihm nichts fürs Archiv gegeben hätte, aber alles andere, was er sagte, war gelogen. Wahrscheinlich ist auch das eine Lüge. Was wäre, wenn Gemma …« Dann erkannte sie ihren Irrtum. »Nein, das würde nicht gehen.«
»Na komm, Roz, ich kann doch nicht Gedanken lesen. Was würde nicht gehen?« Luke zog einen Stuhl heran, setzte sich ihr gegenüber und hörte zu.
»Ich dachte, vielleicht suchte sie das Band, das sie ihm für das Archiv überlassen hatte, aber sie hätte ja einfach ihre eigenen Originale nehmen können. Da wäre es sowieso leichter zu finden.« Aber sie hatte immer noch das Gefühl, dass das, wonach sie suchten, praktisch vor ihnen lag.
Luke schüttelte den Kopf. »Du hast nicht genau mitbekommen, was bei Gemma los war«, sagte er. »Der Einbruch, erinnerst du dich? Jemand hat den Kassettenrekorder und alle ihre Musikkassetten mitgehen lassen. Er hat einfach das Regal mit allen Bändern mitgenommen – inklusive ihrer alten Bänder, ihrer Forschungsunterlagen.«
»Es gab keine Sicherheitskopien?«, fragte Roz.
Er schüttelte den Kopf. »Erst danach hat sie angefangen, von allem Sicherheitskopien zu machen. Deshalb war ich so sicher, dass die Abteilung Sicherheitskopien haben würde, als ihre Festplatte gelöscht wurde. Und deshalb war ich hinter Grey wegen eines richtigen Sicherungssystems her. Nein, sie hat alle ihre Bänder verloren. Das Blöde war, die Diebe waren doch bestimmt nicht an einem Haufen Bänder mit russischen Aufnahmen interessiert gewesen.« Luke sah sie nachdenklich an. »Oder doch?«
»So muss es gewesen sein. Sie wollte etwas auf einem ihrer eigenen Bänder nachsehen.« Roz war begeistert, aber als ihr dann klar wurde, dass sie dies ohne Gemmas Originale kaum weiterbrachte, enttäuscht. Sie tippte sich mit dem Kuli gegen die Zähne, während sie nachdachte.
»Mensch, Bishop«, Luke nahm ihr den Kuli aus der Hand. »Willst du, dass ich durchdrehe?« Er warf den Kuli auf den Schreibtisch. »Also, was bringt uns das?«
»Wenn wir herausfinden können, was es war«, sagte Roz, »dann können wir vielleicht auch herauskriegen, warum Gemma es für wichtig hielt.« Sie rieb sich die Augen. »Ich wünschte, ich könnte besser Russisch. Aber es ist wie Auto fahren mit verbundenen Augen.«
Sie zermarterte sich das Hirn. Dann griff sie an Luke vorbei und gab ›Kat‹ ein. Das Programm meldete sofort: Das gesuchte Element konnte nicht gefunden werden. »Verdammt.« Luke sah sie überrascht an. Roz fluchte fast nie. »Ich dachte, es läge vielleicht an der Schreibweise«, sagte sie. »Was immer Gemma wohl gemeint hat, als sie Cats ?? auf die Niederschrift notierte. Ich weiß nicht, wie die anderen Wörter ausgesprochen werden, aber …« Sie erinnerte sich an das Gespräch mit Holbrook:
»Wie würde ein russischer Sprecher › cat ‹ sagen?«
»Auf Russisch? So etwas wie korschka . Oder kort, für Kater. Es klingt nicht sehr ähnlich wie im Englischen.«
»Ich meinte das englische Wort.«
»Es würde wie kort ausgesprochen werden, so etwa …«
Aber Holbrook hatte gelogen. Greenhough hatte etwas anderes gesagt: »Sie würden etwas wie einen ›e‹-Laut bekommen, so etwas wie ›ket‹.«
Jetzt war es klar. »Wir hatten es die ganze Zeit hier direkt vor der Nase«, sagte sie. »Es steht auf der Niederschrift.« Sie griff wieder an ihm vorbei
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