Nachtengel
Sohn in der Schule war, fühlte sie sich einsam, und wenn sie vor die Tür trat, war sie eine Kuriosität.
Aber dann … bemerkte sie andere, geheime Aktivitäten, hier und da trafen verzweifelte Menschen ein. Sie kamen nach Einbruch der Dunkelheit, nachdem die Beratungsstelle geschlossen war, in den Zeiten, wenn sie normalerweise schon weg und Matthew allein da war. Sie hatte Leute gesehen, die sich vor Hunger, Krankheit und Gewalt retteten, Menschen, die tief in eine schreckliche Schuldenlast verstrickt waren. Sie hatte Familien gesehen, die auseinander gerissen worden waren, die Eltern von den Kindern getrennt, Brüder von den Schwestern, Frauen von ihren Männern. Sie wusste, was im Gesetz stand, aber sie richtete sich nach Matthew, der sagte: »Wenn du nicht fragst, dann weißt du auch nichts. Geh einfach nach Hause und lass mich machen. Mach dir keine Sorgen.« Hohläugige junge Männer und junge, gehetzte Frauen schienen immer in der Nacht zu kommen. Dann war ein oder zwei Tage jemand irgendwo im Haus, ohne Geräusche zu machen, und dann waren sie wieder weg. Matthew lächelte sanft, wenn sie ihm Fragen stellte.
Dann war die Frau gekommen. Hier sah Rafiq Lynne an. »Die Frau, Sie sagen, die … tot«, sagte sie. Katja. Sie war eines Abends gekommen, verletzt und verwirrt. Nasim hatte die Polizei und einen Arzt holen wollen. Aber Matthew hatte gesagt: »Du weißt nicht, was du da anrichtest!« Zum ersten und einzigen Mal war er böse geworden. Er hatte die Frau ins Krankenhaus gebracht und dann eindringlich und lange mit Nasim gesprochen. »Sie brauchen alle unsere Hilfe. Wir können nicht die Polizei zu ihr hierher kommen lassen. Es wird schon in Ordnung gehen. Ich werde dich nicht wieder mit reinziehen.« Das hatte er versprochen, aber dann war Anna Krleza gekommen, allein und verängstigt.
»Sehr jung …«, sagte Rafiq und berichtete mit tonloser und trauriger Stimme weiter über Krlezas kurzen Aufenthalt im Zentrum und ihr plötzliches Verschwinden. Pearse hatte sie am Samstag spätabends angerufen, um ihr zu sagen, dass Anna weggegangen sei. »Er sagt, er sie suchen«, sagte Rafiq. Sie war seitdem nicht mehr in der Beratungsstelle gewesen.
»Was nun?«, sagte Lynne zu Farnham, als sie in sein Büro zurückkamen.
»Was sie betrifft, wird das Ausländeramt entscheiden«, sagte er. Er nahm das Telefon und fing an, die Nummer zu wählen.
Lynne hielt ihn davon ab. »Sie hat mir vertraut«, sagte sie. »Sie hat mir von ihrem Sohn erzählt.«
Er schaute sie ernst an. »Ich habe keine Abmachungen getroffen«, sagte er und nahm wieder den Hörer. »Sie wurde vielleicht zu Anfang unbeabsichtigt Zeugin dieser Aktivitäten, Lynne, aber sie hat nichts unternommen. Sie hat Informationen verheimlicht. Ich kann das nicht einfach übersehen.«
»Ich habe sie in dem Glauben gelassen, dass ein Deal möglich wäre«, sagte Lynne. »Ich war mit dir zusammen hier. Sie muss gedacht haben, dass das die Grundlage war.«
Er sah sie an. »Warum glaubst du, dass ich dich dabeihaben wollte?«, fragte er.
18
Sheffield, Sonntagnachmittag
Roz hatte vergeblich Inspector Jordans Nummer angerufen. Sie sah Luke an, der im Computerraum auf und ab ging und seine Nervosität mit schwarzem Kaffee noch steigerte. »Sie ist nicht da«, sagte Roz.
»Ach, um Himmels willen, Roz«, sagte er ärgerlich. »Was macht das für einen Unterschied? Wir haben gefunden, wonach Gemma suchte, eine ihrer Lieblingssprachen. Und?«
»Und nichts. Wir wissen nichts. Vielleicht weiß die Polizei etwas.« Aus dem Telefon ertönten kurze Piepstöne, und sie legte den Hörer wieder auf. »Irgendetwas muss dahinter stecken. Warum sollte Holbrook versuchen, mich davon abzuhalten, dass ich es finde?«
»Du glaubst, dass er das getan hat, Roz. Du weißt es nicht.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Schau, er hat dir eine falsche Information gegeben, als du seine Mittagspause unterbrochen hast. Weißt du, wie oft ich das tue, wenn irgendein Student vorbeikommt und loslegt?«
»Seit wann stellen dir Studenten Fragen zu Mordermittlungen?«
»Ach komm, Roz, er hat Gemma das verdammte Ding benutzen lassen, als sie ihn darum bat. Und er hat es dir gegeben. Das heißt doch nicht, dass er es versteckt.« Sie waren wieder in das vertraute Muster verfallen, an das sie sich immer während der Arbeit bei einem schwer zu lösenden Problem hielten. Luke der ungeduldige Skeptiker, Roz die Stimme der Vernunft, so wurden die Argumente logisch sortiert, bis sie
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