Nachtengel
Haustür führte. Auf einem Tisch stapelte sich Post für die Hausbewohner, die dort abgelegt wurde. Sie schaute die Briefe durch. Es kamen mehr Namen vor, als Wohnungen im Haus waren, und einige der Kuverts sahen aus, als lägen sie schon eine ganze Weile da. In dem Stoß waren zwei ungeöffnete, ungelesene Briefe an Pearse, erst kürzlich angekommen.
Es hätte als Beweis eines freudlosen Lebens gelten können, dieses Zimmer, in dem kaum etwas Persönliches war, aber Lynne sah es mehr als den Raum eines Menschen an, dessen Leben sich anderswo abspielte, für den Essen und Schlafen nur lästige Notwendigkeiten waren, die von den wichtigen Dingen ablenkten. Aber unter dem Gesichtspunkt der Ermittlung sagte es ihnen nichts. Farnham ordnete die Durchsuchung an, alles sollte auseinander genommen werden, und machte sich zur Beratungsstelle auf den Weg, wo, so hofften sie alle, sich mehr Hinweise ergeben würden.
Als sie ankamen, war die Beratungsstelle zu, abgeschlossen, und alles war still. Lynne hatte sie von ihrer ersten kurzen Erkundung her in Erinnerung. Die Schachteln mit Merkblättern standen in dem kleinen Büro auf den Regalen. In der Schreibmaschine steckte ein Blatt Papier. Lynne zog es heraus und betrachtete es. Es war unbeschrieben. Die Schubladen waren leer, bis auf Nasims Buch: Intermediate Business English, BEC2 . Lynne blätterte darin herum, fand überall Nasims Anmerkungen in kunstvoller arabischer Schrift, aber sie entdeckte nichts Relevantes. Sie ging auf den Hof hinaus, der nasskalt und halbdunkel neben dem hohen, verlassenen Lagerhaus mit seinen vernagelten Türen und Fenstern lag. Bei ihrem früheren Besuch hatte sie den Eingang zum Dachboden übersehen, der von einem Stoß Kartons halb verdeckt war. Zwar hatte Lynne keine Durchsuchung durchgeführt, aber sie war sich auch bewusst, dass Nasim Rafiqs gespielte Bereitwilligkeit, sie könne sich überall umsehen, ihre Beobachtungsgabe geschwächt und sie nachlässig gemacht hatte.
Der Dachboden enthielt ein kleines Bett unter einem Oberlicht, von dessen Rahmen die Farbe abblätterte. Das Bett war gemacht, sah aber aus, als sei es vor kurzem benutzt worden. Ein dunkles, welliges Haar lag auf dem Kissen, auf dem eine Kuhle zu erkennen war, wo ein Kopf gelegen hatte. Lynne konnte erraten, wer hier unlängst gelegen hatte. Sie schloss die Augen und versuchte, sich Anna Krleza vorzustellen. Aber nichts war zu finden, nur der trockene Geruch der alten Tapete, der Ruf der Meeresvögel, die sie auch von ihrem eigenen Fenster aus hörte, und der ferne Lärm des Stadtverkehrs umgaben sie.
Hull, Sonntagvormittag
Nasim Rafiq saß da wie der Inbegriff des Schweigens, ihre dunklen Augen beobachteten Farnham, der den Ablauf des Verhörs erläuterte, dann richtete sich ihr Blick auf Lynne, deren Anwesenheit er erklärte. Lynne hatte versucht, ihren Gesichtsausdruck zu deuten und ihr die Nachricht zu übermitteln: Genug von der Wahrheit, um uns zu helfen, aber nicht so viel, dass Sie sich selbst belasten! Rafiq schien Farnham gut zu verstehen und wehrte mit einer selbstsicheren Geste ab, als er auf die Dolmetscherin hinwies. »Ist nicht nötig«, sagte sie.
Zuerst stellte ihr Farnham Routinefragen, deren Antworten er bereits kannte. Wie lange sie schon im Land lebte, welchen Beruf ihr Mann hatte, wie lange die Familie zu bleiben vorhatte. Sie war Lehrerin, erzählte sie und wurde plötzlich gesprächig. Sie wolle die nötigen ergänzenden Prüfungen ablegen, um an einer englischen Schule unterrichten zu können, aber ihr Englisch sei nicht so gut, wie es sein sollte. Sie ließ diese Sätze zum Teil von der Dolmetscherin erklären. Dann schwieg sie. Lynne fiel das Lehrbuch ein, das bei ihrem Gespräch mit Rafiq in der Beratungsstelle auf dem Schreibtisch gelegen hatte, als fast mit Sicherheit Anna Krleza irgendwo versteckt gewesen war. Sie dachte an Rafiqs Büro und die angelehnte Tür nach hinten, die sie wegen des angeblichen Luftzugs geschlossen hatte. Sie fragte sich, warum die Frau solche Risiken einging.
»Erzählen Sie mir von der Beratungsstelle«, sagte Farnham. »Wie lange arbeiten Sie schon dort?«
Sie erklärte, wieder mit Hilfe der Dolmetscherin, dass sie seit etwa fünf Monaten ehrenamtlich dort tätig sei. »Es hilft mein Englisch«, fügte sie hinzu. »Und …«, sie hielt inne und sprach mit der Dolmetscherin.
»Man plante, ein Beratungs- und Schulungszentrum für die Asylbewerber aufzubauen, die hierher kommen«, sagte die Dolmetscherin.
Weitere Kostenlose Bücher