Nachtengel
Informationen wie möglich.
»Ja, also, so war das nicht«, sagte Balit. »Er ist zu mir gekommen. Er hatte die Räume gefunden und wusste, dass sie nicht genutzt wurden. Er schlug vor, einen Möbelladen darin einzurichten.« Lynne wartete, ob er etwas hinzufügen würde. »Er wusste, dass sie zu wenig Lagerraum hatten.«
»Wer?« Lynne wollte wissen, wer sich darum bemüht hatte, die Räumlichkeiten zu bekommen.
»Oh, die Kirchen hier am Ort. Sie arbeiten oft zusammen, wenn sie sich nicht gerade um die Seelen streiten«, sagte Balit. »Pearse dachte, dass man gespendete Möbel dort lagern könnte.«
»Er arbeitet für die Kirchen hier?«, sagte Lynne.
Balit lachte wieder. »Ich weiß nicht, ob man es so nennen sollte«, sagte er. »Er ist Priester. Römisch katholisch. Man hat ihn – wie nennt man das – gefeuert, hat ihm das Priesteramt entzogen. Er hat sich mit einem Gemeindemitglied eingelassen, glaube ich.«
Matthew Pearse war Priester.
»Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehest unter mein Dach … Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.«
Domine non sum dignus, ut intres sub tectum meum … Ihr Fieber musste schlimmer geworden sein. Er stand dort, und in der offenen Tür hinter ihm war wie in einem Rahmen etwas Dunkles in dem lichten Gang, und in der tiefen Finsternis glühte stetig und rot eine Flamme. Er trug die Soutane eines Priesters, die matt schimmerte, die Kerzen tropften, und schwarze Rauchfäden stiegen von ihnen auf. Als er den Becher hochhob, sah sie, wie er im flackernden Licht glänzte. Er stand vor dem Tisch, und sie nahm das Brot aus seiner Hand, und als er ihr den Becher an den Mund hielt, trank sie den Wein. Er war da, und es war Matthew, aber der Gestank stieg ihr in die Nase, und um ihn war Finsternis. »Matthew«, sagte sie. Sein Blick richtete sich in die Dunkelheit hinter ihr.
»Möge der Allmächtige Gnade über dir walten lassen, dir deine Sünden vergeben und dir das ewige Leben schenken.«
Misereatur vestri omnipotens Deus … Er ging zur Tür, die Wände waren geschwärzt, das Dach eingefallen, der kleine Fuß lag still auf der Schwelle. Der Duschvorhang wölbte sich, er war rosa und durchsichtig, zeigte und verhüllte zugleich die Form dahinter. Sie wollte nicht hinter diesen Vorhang sehen, nicht über diese Schwelle treten, aber das Fieber riss sie mit sich an einen hohen, fernen Ort, und der Wein machte sie schwindelig.
Seine Hände auf ihren Armen waren unerbittlich, sie stolperte auf der kleinen Stufe, und er ließ sie los und in den schmalen Raum hineinfallen. Und der Gestank war überall um sie herum und die Angst würgte sie. Es war ein Gestank von Verwesung und menschlichen Exkrementen, und ihre Hände trafen auf eine glatte, fugenlose Wand. Sie drehte sich zur Seite, um zu fliehen, aber etwas Weiches drückte sich gegen sie. Draußen erklang wieder ein Seufzen, die dumpfe Luft lastete schwer auf ihrer Brust, und das Kerzenlicht erlosch, als die Tür zufiel.
Der Mond ging auf, als Lynne bei der Beratungsstelle ankam. Der Tag hatte sie an einen Albtraum erinnert, in dem sie einen dringenden Termin hatte, aber immer wieder durch Nebensächlichkeiten aufgehalten und abgelenkt wurde, die sie von Orten, an denen sie sein sollte, oder von Dingen, die sie tun sollte, fern hielten.
Das Gefühl der Dringlichkeit war wohl auf die bevorstehende Entscheidung der Einwanderungsbehörde über Nasim Rafiq zurückzuführen. Aber das konnte bis morgen warten. Wenn das Buch die Art von Informationen enthielt, die Rafiq genannt hatte, würde das vielleicht genügen, um die Behörden in Schach zu halten. Warum hatte sie aber das Gefühl, dass die Zeit ablief, und dass sie bei aller Betriebsamkeit das Wichtigste versäumte?
Sie schloss die Tür auf und ging in den nun schon vertrauten Raum, den alten Laden mit dem ehemaligen Ladentisch und weiter zum Büro. Nasims Schreibtisch stand zwischen Regalen und Aktenschränken. Sie zog eine Schublade heraus und war erleichtert, als sie das Buch vor sich sah. Sie nahm es in die Hand und blätterte darin. Es war so, wie sie es in Erinnerung hatte, mit Notizen in einer ihr unbekannten Schrift versehen, aber auch mit Zahlen und hier und da Hinweisen in lateinischen Buchstaben, die wie Namen und Adressen aussahen. Ja! Das könnte Gold wert sein. Sie legte es in einen Hefter und klemmte diesen unter den Arm.
Dann sah sie in den anderen Schubladen nach, ob sie noch etwas übersehen hatte, aber sie waren leer. Sie
Weitere Kostenlose Bücher