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Nachtengel

Titel: Nachtengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danuta Reah
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Geste, die geistige Verwirrung andeutete. »Sie sprach immer wieder über Katzen. Der Arzt, der sie untersuchte, sagte, sie sei vielleicht vergewaltigt worden, deshalb gingen wir sehr behutsam mit ihr um. Aber sie hatte Schmerzen, also holte ich wieder die Schwester, und als ich zurückkam, war sie weg.« Die Beamtin sagte, die Frau habe ein leicht orientalisches Aussehen gehabt, rundes Gesicht und hohe Wangenknochen, die für den Fernen Osten typisch sind. Ihr Haar war tiefschwarz und ihre Haut unter der bläulichen Färbung nach Eintreten des Todes blass. Die Überwachungskameras hatten sie aufgenommen, als sie das Krankenhaus allein verließ. Sie war am Eingang stehen geblieben und hatte sich umgesehen, deshalb konnte die Kamera ihr Bild einfangen. Die Schultern hochgezogen, war sie in den Mantel gehüllt, den der Mitarbeiter der Flüchtlingshilfe ihr gegeben hatte, als er sie zum Krankenhaus fuhr. So wurde sie zum letzten Mal gesehen, bis dann ein Spaziergänger ihre Leiche im Schlamm der Flussmündung inmitten einer Schar gefräßiger Möwen fand.
    Und die Möwen und die Wellen hatten ihre Arbeit getan. Das Gesicht der Frau war verwüstet. Nur ihr zerschlagener Körper war geblieben, das rabenschwarze Haar, der Mantel mit seinem Weihnachtsrot, der ein unheilvoller und unpassender Hinweis auf den letzten Ort war, die Brücke, auf der sie verlassen dagestanden hatte – und die Tonbandaufnahme. Roy Farnham, der die Ermittlung in dem Fall leitete, hatte das Band an Lynne geschickt mit der Bitte um jede hilfreiche Information, die sie herausfinden konnte. »Wir wissen noch nicht einmal, ob wir es mit einem Mord zu tun haben«, hatte er gesagt, als Lynne mit ihm sprach. Der Obduktionsbericht war nicht schlüssig, die Todesursache nicht festgestellt, aber die tote Frau war im Anfangsstadium schwanger gewesen.
    Das Wenige, das Lynne über die Tote wusste, waren Vermutungen. Ihre Nationalität – sie sprach Russisch – und möglicherweise ihren Namen. Zweimal sagte sie auf der Bandaufnahme etwas, das wie ›Katja‹ klang, aber die Tonqualität war schlecht. Die Aufnahme ließ vermuten, dass sie als Prostituierte gearbeitet hatte, aber bis jetzt hatte Lynne keine weiteren Informationen über die Frau herausgefunden.
    Außer wenn ihre Anfrage zu dem Band ein Ergebnis zeitigte. Vor zwei Monaten hatte Lynne an einem Seminar über die Entwicklung neuer analytischer Methoden teilgenommen. Diese Seminare wurden regelmäßig abgehalten, und sie fand es von Nutzen, sich über die neuesten technischen Hilfsmittel auf dem Laufenden zu halten. Als sie das Katja-Band in die Hände bekam, hatte sie sich sofort an das Seminar erinnert, bei dem eine Frau von einer der Unis in South Yorkshire um Auftraggeber warb. Sie hatte über die Möglichkeiten gesprochen, wie man Tonbandaufnahmen, die unverständlich schienen, von Hintergrundgeräuschen befreien konnte, und – hier war Lynne besonders aufmerksam – wie die Nationalität eines Sprechers aufgrund seines Akzents festgestellt werden konnte. Die Frau hatte insbesondere hervorgehoben, dass die regionale und nationale Herkunft von Asylbewerbern ermittelt werden konnte, und Lynne hatte sofort begriffen, wie man das bei ihrer eigenen Arbeit verwenden könnte.
    Zunächst war sie von der Frau nicht sehr beeindruckt gewesen. Sie schien etwas eingeschüchtert von der Skepsis der anwesenden Polizeibeamten, einer Skepsis, die sich bestätigt hatte durch eine lange Reihe von Pannen im Gerichtssaal und durch ›Experten‹, deren Untersuchungsergebnisse zum gleichen Material sich deutlich widersprachen. Aber Lynne interessierte sich für die Frau, als sie von dem Erfolg berichtete, den sie in dem Fall eines obszönen Anrufers hatten. Weil er unvorsichtig genug war, eine Nachricht auf einem Anrufbeantworter zu hinterlassen, konnte er verurteilt werden. »Und Sie haben ihn aufgrund der Nachricht gefunden?«, fragte einer aus der Gruppe.
    »O nein«, hatte die Frau geantwortet. »Wir haben zwar dazu beigetragen, dass er verurteilt wurde. Aber ich glaube, er wurde aufgrund der Telefonnummer aufgespürt, die er hinterließ.« Als sie von ihren Notizen aufschaute, glänzten ihre Augen belustigt. Lynne hatte sich ihren Namen aufgeschrieben – Wishart, Gemma Wishart. Sie hatte ihr das Katja-Band geschickt, als sie es von Farnham bekommen hatte, und hoffte sehr, dass Gemma wenigstens herausfinden würde, woher die Frau kam.
    Und das erinnerte sie daran, dass der Bericht heute eintreffen sollte.

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