Nachtengel
Sie sah bei den Posteingängen nach, aber keine Spur davon. Sie rief Wishart unter ihrer Durchwahl an, aber eine Sekretärin antwortete, Wishart sei nicht da. Lynne sagte ihr, wer sie war, und fragte nach dem Bericht. »Ich sehe mal nach, ob ich jemand anderen finde, der mit Ihnen sprechen kann«, sagte die Sekretärin unsicher und ließ Lynne mit ungeduldig trommelnden Fingern warten, bis endlich jemand ihren Anruf annahm.
»Hier ist Dr. Bishop«, sagte eine Stimme. »Tut mir Leid, dass Sie warten mussten. Ich bin eine Kollegin von Gemma Wishart.« Sie fing an, über eine Autopanne zu reden, und Lynne musste sie unterbrechen. »Tut mit Leid«, fing Bishop noch einmal an. »Wir sind durch Gemmas – Dr. Wisharts – Fehlen in Verzug. Aber ich kann Ihnen die Einzelheiten des Berichts jetzt durchgeben, wenn Sie möchten.« Lynne machte sich Notizen, während die andere Frau sprach. Katja stammte laut Wisharts Bericht aus Ostsibirien.
»Wie sicher ist sie?« Lynnes geografische Kenntnisse waren zwar nicht sehr exakt, aber sie hatte das Gefühl, dass ›Ostsibirien‹ ein Gebiet umfasste, das beträchtlich größer war als die britischen Inseln. »Kann sie es genauer eingrenzen?« Wenn sich das Gebiet näher bestimmen ließ, konnte man Katja vielleicht identifizieren, vorausgesetzt, ihre Familie oder ihre Freunde hatten sie als vermisst gemeldet.
»Sie werden mit Gemma sprechen müssen, wenn Sie ins Detail gehende Fragen haben, aber« – Lynne hörte, wie Seiten umgeblättert wurden – »sie schreibt: ›Der Akzent passt zu Nordostsibirien.‹« Sie las einige technische Details über Vokale und stimmlos und Intonation vor. Lynne gab nur kurze Antworten, während sie darüber nachdachte. Es schien, dass man mit der Information nicht weiterkommen würde. Sie unterbrach die Frau, als sie gerade über akustische Profile sprach, bedankte sich, und das Gespräch ging mit dem Versprechen zu Ende, dass der vollständige Bericht an diesem Tag mit der Post rausgehen würde.
Sie legte die Katja-Akte zur Seite, über die sie weiter nachdenken konnte, sobald der Bericht eingetroffen war, also wahrscheinlich am Montag. Es war ärgerlich. Akademiker schienen nicht die gleichen Zeitmaßstäbe zu haben wie andere Leute.
Seit ›Katjas‹ Tod war schon fast ein Monat vergangen, und es war eher unwahrscheinlich, dass sie über die wahre Identität der Frau noch Informationen erhalten würden. Wenn der endgültige Obduktionsbericht käme, würde ihr Tod vielleicht offiziell als Selbstmord eingestuft werden, und sie und ihr ungeborenes Kind würden in einem namenlosen Grab in einem fremden Land liegen. Für alle Zeit in fremder Erde … wo? Da sie keine klare Todesursache hatten und sie nicht identifiziert war, konnten die ermittelnden Beamten nur sehr wenig tun.
Sheffield, Freitagabend
Als Roz nach Hause kam, war es schon dunkel. Sie wohnte in der Oststadt, nicht in einem teuren Vorort. In Pitsmoor gab es Bäume und ruhige Straßen, Zeilen mit Reihenhäusern und große Häuser mit Gärten. Burngreave Cemetery, der Friedhof, der kleine Park und ein Naherholungsgebiet boten Platz und Grün zwischen den Geschäften, Häusern und Straßen. Aber es war eine heruntergekommene Gegend. Einige Schaufenster waren mit Brettern vernagelt. Wegen der niedrigen Grundstückspreise ließen die Hausbesitzer ihre Häuser verkommen. Als die Straßen ungepflegter wurden, erschienen nach und nach Graffiti an Häuserwänden und Bushaltstellen. Zeichen der Erneuerung, die sich in der Stadtmitte durchzusetzen versuchten, gab es hier nicht.
Pitsmoor mit seiner bunt gemischten und sich ständig verändernden Bevölkerung gefiel ihr. Und als sie das Haus besichtigt hatte, hatte sie sich sofort dafür begeistert. Sie mochte die viereckigen Erker des Doppelhauses, die hohe Ligusterhecke, die Brombeeren und ausladenden Rosenbüsche, die Steinlöwen, die als Wächter auf den Stufen saßen, die große Diele und die Holztreppe, die riesige Küche mit dem Steinplattenboden und dem alten Herd, das Labyrinth des Wintergartens und der Schuppen, die sich bis zur Doppelgarage hinzogen und sie daran erinnerten, dass Pitsmoor früher einmal ein Ort war, wo die Wohlhabenden oder mäßig Reichen der Stadt lebten. Sie sah sogar das Nachbarhaus als einen Vorteil an. Es war ein Haus wie das, in dem sie wohnte, das aber zu lange leer gestanden hatte, mutwillig zerstört worden war und jetzt zerfiel.
Alle hatten gesagt, Roz müsse verrückt sein, als sie das Haus kaufte.
Weitere Kostenlose Bücher