Nachtengel
ungutes Gefühl.
Er überlegte, welche Geschichte hinter dem Schicksal der Frau in der Badewanne stecken könnte. Sie hatte so klein und zerbrochen ausgesehen.
Der Priester war erst sechzig, aber er fühlte sich wie ein alter Mann. Er hatte sein Leben in innerstädtischen Pfarreien zugebracht, ein Leben, das, wie es sich gehört, Armut, Keuschheit und Gehorsam gewidmet war. Er hatte miterlebt, wie die Kirche, die von den frühesten Erinnerungen an sein Leben gewesen war, stetig an Macht und Einfluss verlor. Und jetzt war er müde.
Langsam ging er das Kirchenschiff entlang und dachte an die priesterlichen Pflichten, das Ritual der Gebete, die ihm fast automatisch von der Zunge rollten, die aber immer tief empfunden und voller Bedeutung waren, wenn er sie in die Stille, die schweigende, muffige Luft der Heiligkeit, in die Transzendenz Gottes hineinflüsterte.
Heilig, heilig, heilig, Herr Gott der Heerscharen … Manchmal kamen ihm die Worte in dem alten Kirchenlatein in den Sinn – das aus gutem Grund schon lange nicht mehr in Gebrauch war –, das alte Latein, an das er sich gut erinnern konnte und das ihm manchmal fehlte. Sanctus, sanctus, sanctus … Die Kirche war still und leer. Sie war aus dem Stein herausgehauen und erhob sich bis hoch hinauf zum gewölbten Dach, wo das diffuse Licht durch die Filigranmuster der bunten Fenster hereinfiel und Flecken auf die Steinsäulen malte. Die Steinplatten auf dem Boden waren von den Füßen der Betenden, von reuigen Sündern und Kommunikanten glatt geworden. Manchmal traten auch Touristen auf die in die Gedenksteine eingemeißelten Namen.
Während er weiterschritt, las er die vertrauten Inschriften. Libera me ! Erlöse mich, o Herr. Die Bitte war noch leserlich, aber der Name war bereits vor Jahrzehnten von dem Stein verschwunden. Requiescat in pace . Er ruhe in Frieden. Die Heiligenfiguren auf den Säulen standen wartend in ihren Nischen, mit vielen Kerzenhaltern davor. Es waren Schachteln für Spenden und mit Kerzen aufgestellt, die man im Gedenken an eine verblichene Seele und als Bitte um Gnade und Vergebung für die Seelen der toten Sünder anzünden konnte. Die Halter waren leer, schon lange nicht mehr benutzt, und das Metall war fleckig geworden. Er konnte sich daran erinnern, dass früher jeder Heilige viele Reihen von Andachtskerzen vor sich hatte, die ruhig in der Dunkelheit brannten und die Luft mit dem Duft von brennendem Wachs erfüllten.
Er ließ sich von seiner Neugier leiten, die ihn zum äußersten Winkel der Kirche führte, wo das Seitenschiff auf das Querschiff traf. In einer dunklen Ecke stand eine Statue von irgendeinem vergessenen Heiligen in Mönchskutte und Tonsur. Vielleicht war die Figur früher einmal bemalt gewesen, aber jetzt war der Stein nur noch grau. Der Moment, wo der Mönch einen Schritt nach vorn tat und eine Hand segnend oder drohend erhoben hatte, war nachgebildet. Die Augen waren glatt und blind, schienen aber wachsam aus der Dunkelheit herauszuschauen.
Der Priester legte bei seinem Rundgang eine Pause ein. Hier gab es nicht so viele Plätze für Kerzen, aber er hatte vor einiger Zeit bemerkt, dass in einigen der Kerzenhalter, immer denselben, Kerzen steckten, die jetzt frisch heruntergebrannt waren. Er berührte leicht einen schwarzen Docht, der zerfiel. Aber er war noch warm, und das Metall von zwei Haltern war mit Wachs bedeckt, das sich im Lauf von Wochen und Monaten angesammelt hatte. Unter der dritten Kerze war weniger Wachs, als hätte jemand den dritten Halter nicht so oft genutzt wie die beiden anderen. Niemand machte diese dunklen Ecken der Kirche sauber. Die Kerzenhalter wurden so selten benutzt, dass niemand daran dachte, nach ihnen zu sehen. Er seufzte beim Gedanken an die Tage, als bereits die Reinigung der Kirche einen Akt der Gottesverehrung darstellte. Aber jemand war hierher gekommen und hatte in der Dunkelheit eine Kerze aufgestellt. Ein Licht, mit dem er um Gnade oder Vergebung flehte, ein Licht, das auf den Weg der Toten scheinen und darum bitten sollte, dass ihre Seelen nicht vergessen wurden.
4
Hull, Freitag
Die Frau war vor drei Wochen im Schlamm der Humbermündung gefunden worden, als sich bei Ebbe das Wasser zurückzog. Die Todesursache war unklar. Es gab Anzeichen dafür, dass sie geschlagen worden war, Blutergüsse, die im Abklingen begriffen waren und die darauf hinwiesen, dass sie wiederholt misshandelt worden war. Zeugen hatten sie spätnachts in der Nähe der Brücke gesehen, ihr
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