Nachtengel
durch tiefes Wasser. Rosalinde. Trügt nicht der Schein, so bist du meine Rosalinde. Das hatte Nathan immer zu ihr gesagt, sie konnten sich nur Mozart auf dem winzigen Kassettenrekorder leisten, und der Gasofen kämpfte gegen den Luftzug der undichten Fenster und der klappernden Türen ihrer Wohnung an. Du bist meine Rosalinde.
Arbeit, sie hatte Arbeit. Sie schaltete die Schreibtischlampe an, und ihr Lichtschein vertrieb die Schatten im Spiegel. Von der Uni hatte sie sich einen der Laptops mitgebracht, der leistungsfähiger war als ihr eigener. Sie wollte die neue Software ausprobieren, die Luke empfohlen hatte, und auch am Buch arbeiten. Sie schaltete den Laptop ein, und während er hochfuhr, schaute sie ihre Disketten durch. Als sie die abgespeicherten Dateien sah, merkte sie, dass es nicht der Laptop war, den sie sonst mit nach Haus nahm, sondern der neue, einer, den Gemma benutzte. Sie hatte geglaubt, Gemma hätte ihn nach Manchester mitgenommen, aber sie musste wohl den älteren haben. Vielleicht hatte sie die Verantwortung für das teurere Gerät nicht übernehmen wollen. Roz stellte sich vor, was Joanna sagen würde, wenn es gestohlen oder beschädigt würde, und fand, dass Gemma die richtige Entscheidung getroffen hatte. Besorgt dachte sie an die Sicherheit bei sich im Haus. Einbrüche waren keine Seltenheit in Pitsmoor. Allerdings war das heutzutage auch anderswo nichts Ungewöhnliches. Gemma hatte vor zwei Wochen ihre Stereoanlage eingebüßt, als in ihre Wohnung eingebrochen worden war. Roz beschloss, den Laptop im Verschlag unter der Kellertreppe einzuschließen, bevor sie zu Bett ging.
Gemma. Seit ihrer Unterhaltung mit Luke … Gemma hätte irgendwann im Lauf des Tages etwas hören lassen oder heute Abend anrufen sollen, um mitzuteilen, dass sie gut wieder zurückgekommen war. Joanna würde wissen wollen, wie das Meeting in Manchester gelaufen war. Vielleicht hatte sich Gemma mit Joanna in Verbindung gesetzt – mit dem Drachen in der Höhle, so nannte Luke sie manchmal. Roz überlegte, ob sie anrufen sollte. Aber Joanna hatte erwähnt, dass sie am Abend ausgehen wolle. »Ich muss mich beeilen. Ich gehe heute Abend ins Konzert.« Joanna wollte wahrscheinlich nicht gestört werden.
Luke. Luke hatte bestimmt etwas gehört. Sie wählte seine Nummer, aber der Anrufbeantworter war dran. Auch Luke schien ausgegangen zu sein. Sie hielt das Telefon ans Ohr und dachte nach. Dann wählte sie, ohne sich viel davon zu versprechen, Gemmas Nummer. Nichts. Aber sie würde ja Joanna morgen Abend sehen. Sie verdrängte das Problem und wandte sich wieder dem Laptop zu. Nach und nach nahm die Arbeit sie in Anspruch, und das Problem mit Gemma trat in den Hintergrund. Die Stunden vergingen unbemerkt, während sie in einem Fleck gelben Lichts im Dunkeln saß und die Zeilen über den Bildschirm scrollte.
Hull, Samstag, 9 Uhr
Lynne Jordan saß in Roy Farnhams Büro und fragte sich, ob sie sauer sein oder sich freuen sollte, dass man sie tatsächlich gerufen hatte. Schließlich entschied sie, dass sie erfreut war. Als sie ankam, hatte niemand sie richtig unfreundlich behandelt. Es war eher so, dass Dinge, über die man sie hätte unterrichten sollen oder die ganz klar oder auch eventuell zu ihrem Verantwortungsbereich gehörten, aus Mangel an Interesse einfach nicht an sie weitergegeben wurden. Aber Michael Balits Einstellung war nicht ungewöhnlich. Prostituierte waren eben (nur) Prostituierte, so schien man zu argumentieren, und manchmal kamen sie um. Illegale Einwanderer waren illegale Einwanderer, und einige von ihnen kamen eben auch um. Lynne erinnerte sich an ein Gespräch bei einem Abendessen, als die Frau eines Kollegen sich empört über einen jungen Mann geäußert hatte, der sich, auf dem Dach eines Eurostar versteckt, ins Land hereinschmuggeln wollte und dabei einen elektrischen Schlag erlitten hatte. »Er belegt jetzt ein Bett auf der Intensivstation«, hatte die Frau, eine Krankenschwester, gesagt. »Jemand anders hätte dieses Bett nutzen können. Das macht mich wütend.« Lynne hatte überlegt, was die Frau glaubte, wie man mit dem schwer verletzten Mann hätte verfahren sollen. Aber sie fragte nicht. Die Antwort wäre wahrscheinlich deprimierend gewesen.
Farnham fürchtete, dass sie einen Prostituiertenmörder in ihrem Gebiet hatten, einen, der die Straße säubern wollte, oder einen, der gern Frauen ermordete und fand, dass Prostituierte die leichteste Beute waren. Und wenn die beiden ersten Opfer
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