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Nachtengel

Titel: Nachtengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danuta Reah
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auffälliger Mantel hatte sich ihnen in der eisigen Dunkelheit eingeprägt. Menschen, die von einer Brücke springen wollen, stehen oft eine Weile da und überdenken diese Möglichkeit, ihr Leben auszulöschen. Detective Inspector Lynne Jordan fragte sich, was die Frau an den rastlosen, wild bewegten Humber getrieben hatte. Aber ihr Interesse galt nicht dem Tod dieser Frau, sondern ihrem Leben.
    Lynne Jordan suchte Schmuggelware, nicht das Übliche wie Alkohol, Tabak und Drogen, die an den Barrieren vorbeigeschleust wurden, die ihren Import verhindern sollten. Sie spürte einer tragischeren und viel problematischeren Schmuggelware nach. Soziale und politische Umwälzungen haben ihren Preis. Der naive Optimismus des Westens mag das Ende des ›Reichs des Bösen‹ feiern, aber der Osten hat einen nüchterneren Blick. Dort gibt es einen Fluch. Mögest du in interessanten Zeiten leben. Die Volksgemeinschaften Osteuropas wurden von den Kräften der Veränderung zerrissen, die Reichtum, Korruption, Armut, Krieg und Tod mit sich brachten. Die Schmuggelware, hinter der Lynne her war, gehörte zum Treibgut dieser Umwälzungen.
    Lynnes Aufgabe war es, in ihrem Revier die Frauen im Auge zu behalten, die illegal ins Land gekommen waren, oder die länger blieben, als ihr Visum erlaubte, und als Prostituierte arbeiteten. In London und Manchester gab es das Problem genauso wie in Glasgow: Frauen, die ins Land gebracht und dann sechs, sieben Tage in der Woche gezwungen wurden, endlos vielen Männern zu Willen zu sein.
    Das Gewerbe breitete sich aus. Begleitagenturen boten überall im Land ›eine Auswahl internationaler Mädchen‹ an, die in Wirklichkeit wie Sklaven gehalten wurden. Wenn eine Frau einen Pass hatte, wurde er ihr abgenommen. Mit ihrem Verdienst, der nur aus einem Bruchteil dessen bestand, was ihr Zuhälter für ihre Dienste verlangte, musste sie die Kosten für die Einschleusung nach England tragen und teuer für Unterkunft und sonstige Auslagen zahlen. Meist wurden die Frauen in Wohnungen gesperrt, durften nie ohne Aufsicht ausgehen, Sklavinnen aufgrund von Schulden und Angst. Sie waren jung, manche sehr jung – die Polizei hatte in Nordengland in einem der Häuser, die sie durchsuchte, elfjährige Mädchen gefunden –, und die meisten hatten zu große Angst vor den britischen Behörden, um Hilfe zu suchen, wenn sie es denn schafften, zu entkommen. Hull stellte Lynne vor ein interessantes Problem. Es war eine große Stadt mit einem wichtigen Hafen, hatte aber keine richtige Einwanderer-Gemeinde, in der Frauen sich verstecken oder versteckt halten konnten. Jedenfalls nicht, bevor die staatlichen Programme zur Verteilung der Asylsuchenden anliefen, die diese aus den überfüllten Zentren im Südosten holten und in den nördlichen Städten mit ihren reduzierten öffentlichen Mitteln – Liverpool, Manchester, Sheffield, Newcastle und Hull – abluden.
    Die Hilfsorganisationen, die man eilig eingesetzt hatte, reagierten auf Lynnes Fragen vorsichtig oder feindselig. Michael Balit, der Koordinator ehrenamtlicher Helfer, der mit dem Stadtrat und einigen der Flüchtlingsorganisationen zusammenarbeitete, hatte ihr gesagt: »Das liegt nicht in meiner Verantwortung. Ich habe keine Zeit, nach Striptänzerinnen oder Kindermädchen zu suchen, die ihr Einkommen aufbessern wollen.« Er fing Lynnes Blick auf. »Hören Sie, Prostituierte können schon für sich sorgen. Es ist eine Angelegenheit für die Polizei, es ist Ihre Sache. Halten Sie mich auf dem Laufenden, was da los ist. Informieren Sie mich. Ich lasse Sie wissen, wenn ich auf etwas stoße, das wichtig sein könnte. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen …«
    Die Frau war sehr jung gewesen. Sie wurde im alten Hafenviertel in einem entsetzlichen Zustand gefunden und von einem der Mitarbeiter der Flüchtlingshilfe in die Unfallstation des Krankenhauses gebracht. Jemand vom Krankenhaus hatte die Polizei angerufen, aber die Frau sprach kaum Englisch und stand unter Schock, sodass nur sehr wenig von dem herauskam, was ihr passiert war. Lynne hatte sich das Band angehört, das ein umsichtiger Kollege aufgenommen hatte, als sie im Krankenhaus mit ihr sprachen. Obwohl sie durchaus willig und sogar darauf erpicht schien, mit ihnen zu reden, hatte etwas sie geängstigt, und sie war weggelaufen. Eine Polizistin, selbst eine junge Frau, hatte zu Lynne gesagt: »Sie kam mit uns zurecht. Mit mir. Aber sie schien ein bisschen …« Sie zeigte auf ihren Kopf und machte eine

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