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Nachtengel

Titel: Nachtengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danuta Reah
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Sie war damals seit drei Monaten in Sheffield und wusste, dass sie eine Weile bleiben würde. »Aber doch nicht Pitsmoor!«, sagten sie, und: »Warte, bis du Zeit gehabt hast, dich umzusehen.« Aber das Haus hatte Roz an das Haus erinnert, wo sie mit Nathan gewohnt hatte, und Pitsmoor ähnelte wenigstens ein bisschen dem Ort, den sie verlassen hatte. Sie war zufrieden.
    Sie stand an der Hintertür und sah auf das verlassene Haus hinüber. Ein Baum wuchs aus dem Erkerfenster heraus, und Efeu und altes Gras hingen wie Fransen über die Traufe. An Sommerabenden konnte sie im Garten sitzen und die Tauben beobachten, die aus den Löchern im Dach, wo Ziegel fehlten, heraus- und hineinflogen, – das gemeinsame Werk von Unwettern, Abnutzung und Kindern der Gegend. Sie fröstelte. Es wurde kalt. Der Mond stand schon hoch am Himmel, sie hatte noch zu tun und ging hinein.
    Sie legte Brot zum Toasten in den Grill und machte eine Dose Bohnen auf. Zum Kochen hatte sie keine Lust. Seitlich gegen den Herd gelehnt, aß sie einen Löffel kalte Bohnen aus der Dose, während sie wartete und ein Auge auf den Toast hatte, damit sie den richtigen Moment zwischen hellbraun und schwarz erwischte. Ob Gemma sie wohl anrufen würde, oder ob sie selbst versuchen sollte, sie zu erreichen? Sie erinnerte sich an die Bandaufnahme, an der Gemma gearbeitet hatte. Die Stimme hatte emotionslos geklungen, wahrscheinlich, weil die Frau sich darauf konzentriert hatte, die richtigen Worte zu finden. Aber sie wusste … Mist! Der Toast! Sie drehte das Gas ab. Er war gerade noch zu retten. Sie kippte die Bohnen in einen Topf, stellte ihn auf die Kochstelle und einen Teller auf den Tisch und ging mit dem Toast zur Spüle hinüber, um das Verbrannte abzukratzen.
    Zum Essen setzte sie sich an den Küchentisch und starrte das Fenster an, das jetzt ein Viereck in der Dunkelheit war. Freitagabend – und sie saß hier allein in ihrem Haus, aß lauwarme Bohnen auf Toast, plante, was sie diesen Abend arbeiten wollte, und war glücklich und zufrieden. Ihre Studentenzeit schien erst kurz zurückzuliegen, als Freitagabend bedeutet hatte, in Clubs zu gehen, mit ihren Freunden die Stadt unsicher zu machen, Partys zu besuchen, Spaß zu haben. Vielleicht wollte sie mit Luke versuchen, diese Zeit wieder aufleben zu lassen.
    Dann war das Leben mit Nathan gekommen. Freitagabend bedeutete Wochenende, eine besondere Zeit, die sie beide zusammen oder mit Freunden verbringen wollten … Und dann die Einsamkeit, als er krank geworden war. Ihre Freunde hatten sich bemüht, aber viele hatten sich bald abgesetzt. Sie wurden nicht damit fertig, und am Ende ging es ihr genauso. Sie drehte ihren Ehering am Finger. »Man findet heraus, welche Freunde wirklich Freunde sind«, hatte ihre Mutter gleichmütig gesagt.
    Und jetzt war sie eine erfolgreiche Wissenschaftlerin mit Forschungsaufträgen, auf dem Weg nach oben, und Freitagabend war einfach ein Abend wie jeder andere – ein Abend ohne die unmittelbare Beanspruchung durch den folgenden Arbeitstag, also einer, der genutzt werden konnte, um mit langfristigen Projekten weiterzukommen. Zum Beispiel mit ihrem Buch, das den phantasielosen Titel Eine Einführung in die forensische Phonologie trug. Sie sammelte zwei übrig gebliebene Bohnen vom Teller auf. Vielleicht könnte sie das fünfte Kapitel durchgehen. Sie leckte die Tomatensoße von den Fingern, wusch den Teller und den Topf ab und stellte sie zum Abtrocknen hin, dann holte sie ihre Aktentasche und ging in das Zimmer nach unten, wo sie normalerweise arbeitete.
    Ligusterzweige pressten sich gegen das Erkerfenster und hielten das Licht ab. Das Zimmer war kühl und dunkel wie eine Höhle, ein riesiger Spiegel reflektierte das Licht bis in die Winkel. Der Spiegel stammte vom Vorbesitzer. Er war alt, der vergoldete Rand abgestoßen, das Glas fleckig. Das Spiegelbild ließ das Zimmer aussehen, als befände es sich unter Wasser, und das matte Licht gab allem weichere Umrisse. Roz stand an einem Ende des Tisches und sah ihr Gesicht weiß und verwischt im Halbdunkel. Ihre Goldrandbrille warf das Licht zurück, und ihre Augen dahinter waren nur undeutlich zu erkennen. Sie nahm sie ab. Eigentlich brauchte sie sie nicht. Dann löste sie ihr Haar und ließ es über die Schultern fallen. Die Schäden im Spiegelglas ließen das Licht zittern wie die Flamme einer Kerze, und ihr Spiegelbild sah aus, als schwämme sie mit blassem Gesicht und dem hellen Haar, das in den braunen Schatten trieb,

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