Nachtengel
sah in der Akte nach. »Der Name ist Anna Krleza. Ungefähr zwanzig, etwa ein Meter fünfundfünfzig groß. Schulterlanges dunkles Haar. Laut Fry hat sie erst seit einer oder zwei Wochen im Hotel gearbeitet. Sie sollte ihre Unterlagen für Kranken- und Rentenversicherung innerhalb von ein paar Tagen bringen. Fry sagte, sie sei bereits misstrauisch geworden wegen der Verzögerung.« Er sah Lynne mit skeptisch hochgezogener Augenbraue an. »Ich suche sie. Aber Sie haben die richtigen Kontakte.« Er zog noch einen Hefter auf dem Tisch zu sich herüber. »Wissen Sie irgendetwas über eine Firma, die sich Angel Escorts nennt?«
»Glauben Sie, dass sie von einem Kunden ermordet wurde?« Er gab keine Antwort, sondern wartete ab, bis sie seine Frage beantwortet hatte. »Ich kenne keinen Begleitservice, der sich Angel nennt, jedenfalls nicht in dieser Gegend. Aber viele dieser Agenturen arbeiten heutzutage übers Internet. Im Grunde behaupten sie, dass sie nur die Kontakte herstellen – die Mädchen geben ihnen die Informationen über sich, und die Agentur gibt sie an die Kunden weiter.« Sie zuckte die Schultern. Die Internetseiten mit verkäuflichem Sex boten offenkundig Prostituierte an, aber es war schwierig, sie zu finden. Alle vom Cyberspace oder einer konkreten irdischen Basis aus operierenden Anbieter hielten sich mit vorsichtigen Formulierungen gerade noch innerhalb der gesetzlichen Grenzen, damit sie nicht die Polizei auf sich aufmerksam machten.
»Hm«, antwortete Farnham unverbindlich.
Lynne fragte nach: »Warum glauben Sie, dass sie im Geschäft war?«
»Das tue ich gar nicht«, sagte er. »Aber ich denke, möglich wäre es gewesen. Das Blenheim deutet ja in diese Richtung. Und sie hat etwas Besonderes getragen, so eine Art Korsett mit Spitzen, wie sie bei diesen Fesselungspraktiken üblich sind. Und das Zimmer war nicht für eine Frau reserviert, sondern ein Mann buchte am Abend über Telefon für eine Person. Ein Handelsvertreter, anscheinend.« Er sah noch einmal in seinen Notizen nach. »Sein Name war Rafael. Mit ›f‹, nicht ›ph‹.« Er sah Lynnes fragenden Blick. »Noch kein Glück gehabt. Er hat sich im Hotel eingetragen, nur Gekritzel. Wir lassen es überprüfen, aber ich glaube, es sagt überhaupt nichts aus. Die Telefonnummer gibt es nicht, und er hat keine Autonummer angegeben. Er hat sich ganz normal eingetragen, bezahlt – sie machen das so, wenn sie frühmorgens wegwollen – und ist von niemandem mehr gesehen worden.« Er rieb sich mit dem Zeigefinger die Nasenwurzel. »Jedenfalls, der Name, Angel Escorts, Rafael …« Er sah Lynne an. »Es gibt einen Erzengel, der Rafael heißt.« Lynne wusste das. Aber sie war überrascht, dass Farnham das wusste. »Der Witz eines Freiers, oder der eines Mörders? Oder läuft das aufs Gleiche hinaus?« Er runzelte die Stirn. »Wir haben diese Karte gefunden.« Er schob sie zu Lynne hinüber. Sie betrachtete sie. Internationale Frauen. Deshalb meinte Farnham, sie kenne vielleicht die Agentur. Sie hielt den Blick auf die Karte gesenkt und überdachte die Möglichkeiten, während sie ihm zuhörte. Weder Adresse noch URL. Nur eine Telefonnummer.
»Die Telefonnummer ist die eines Mobiltelefons«, kam Farnham ihrer Frage zuvor. »Wir warten noch darauf, dass wir Informationen zum Standort bekommen, damit wir wenigstens herausfinden können, von wo telefoniert wurde. Bis jetzt haben wir nichts. Wir müssen sie identifizieren.«
Sie wollte ihn gerade fragen, wie weit sie damit gekommen seien, als er ein Foto über den Tisch schob. Sie schaute es an, wandte den Blick ab und betrachtete es dann genauer. »Mein Gott.«
Farnham nickte. »Er hat sie furchtbar zusammengeschlagen.« Lynne sah das Foto und das verwüstete Gesicht der Frau an. Der Körper war klein und schlank. Das Haar, das von dem Gesicht zurückgekämmt war, war lockig. Lynne versuchte, sich die Gesichtszüge vorzustellen, die so völlig ausgelöscht waren, und die Gesichter toter Frauen aus der Vergangenheit tauchten in ihrer Erinnerung auf. Und die namenlosen, toten Frauen, die sie in letzter Zeit gesehen hatte. Die Frau in Ravenscar, Katja und jetzt … in Gedanken hörte sie Farnhams Stimme. Dornröschen.
Sheffield
Am Samstagabend stand Roz am Eingang des Wohnblocks, in dem Joanna wohnte. Das Gebäude war niedrig, drei Stockwerke, und lag nicht direkt an der Straße. Die Vorderseite zeigte auf den Park und die Rückseite auf einen bewaldeten Hügel. Eine Insel ländlicher
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