Nachtengel
Abgeschlossenheit mitten in der Stadt. Roz fragte sich manchmal, wie Joanna es sich leisten konnte, mit dem Gehalt einer Akademikerin hier zu wohnen. Sie klingelte, und als etwas Unverständliches aus der knackenden Sprechanlage ertönte, sagte sie ihren Namen. Dann straffte sie die Schultern und stieß die Tür auf. Warum sie zu dieser Party eingeladen worden war, wusste sie nicht, und sie fand, dass Joannas Partys sowieso eine Nervenprobe waren. Mit Luke hatte sie sich über die Gründe der Einladung unterhalten, als sie am Freitag von der Arbeit wegging. »Du wirst Unterhalterin sein«, sagte er, ohne von seinem Bildschirm aufzusehen. »Nimm deine schicksten Spitzenhöschen mit.«
Na vielen Dank auch, Luke! Sie stand vor der Wohnungstür, und Joanna begrüßte sie mit einem Küsschen, was sie zu anderen Zeiten nie tat. Nach einem kurzen Blick auf das Etikett nahm sie den Wein, den Roz mitgebracht hatte. Wein mitzubringen, war wahrscheinlich ein Fauxpas, überlegte Roz, während sie und Joanna nichts sagende höfliche Floskeln austauschten. Joanna trug ein schwarzes Kleid von untadeliger Eleganz und sah wunderschön aus. Roz sagte ihr dies, und einen Augenblick lag ein Ausdruck echter Freude auf Joannas Gesicht. »Wir sind hier drin«, sagte sie und führte Roz in das Wohnzimmer. Roz beneidete Joanna um diesen Raum mit den riesigen Fenstern, die die ganze hintere Wand einnahmen. An einem Nachmittag vor Weihnachten war sie einmal hier gewesen, als der Arts Tower geschlossen war, um einige Notizen für das Budget-Meeting durchzugehen. Dabei hatte sie den winterlichen Sonnenuntergang beobachtet. Die Sonne, ein orangeroter Feuerball, schien durch die Bäume und färbte die Wolken grau und leuchtend rot.
Roz spürte den weichen Teppich unter ihren Füßen, als sie durch den Raum ging, nickte ein oder zwei bekannten Gesichtern zu und folgte Joanna zu einer kleinen Gruppe von Gästen, die eines der Bilder bewunderten. Joanna stellte sie schnell allen vor. Mark Bell war da, den Roz vom Sehen kannte. Er war ein einflussreiches Mitglied des Finanzierungskomitees, einer der neuen Sorte Akademiker mit guten Beziehungen zur Industrie. »Und das ist Petra, Marks Frau«, fuhr Joanna fort. »Ich glaube, du kennst Jim noch nicht, Jim Broadbent. Jim arbeitet bei Ashworth Lawrence.« Eine der größten Rechtsanwaltskanzleien in South Yorkshire. Roz kannte den Namen, ein weiterer Mann mit viel Einfluss sowohl in der juristischen als auch der akademischen Welt. Sie fragte sich, ob Joanna eigentlich Leute kannte, die weiter nichts waren als Freunde. Vermutlich war es heute Abend die Rolle von Roz, alle diese Gäste, deren Einfluss sich über die Universität hinaus erstreckte, von der Law-and-Language-Gruppe zu überzeugen.
»Und vielleicht kennst du Sean Lewis«, sagte Joanna. »Er hat seinen Doktor am MIT gemacht, und jetzt ist er in Martin Lomax' Team.« In der Informatik. »Sean, das ist Rosalind Bishop.«
Roz sah sich einem sehr jungen Mann gegenüber, der sie aufmerksam betrachtete. »Ich glaube, wir kennen uns nicht«, sagte sie.
Er lächelte. »Sicher nicht.«
Joanna gab ihr ein Glas Wein in die Hand, und als Roz die fast saure, kühle Herbheit des Weins schmeckte, erkannte sie, dass ihr Chardonnay aus dem Supermarkt sicher ein Fauxpas gewesen war. Sie sah Sean Lewis an und fragte sich, warum Joanna ihr ausgerechnet ihn vorgestellt hatte. »MIT«, sagte sie, »eine Alma Mater, die Eindruck macht.« Das Massachusetts Institute of Technology. Sie überlegte, was jemand mit einem Doktor von der Universität wohl in Sheffield tat.
Er schien ihre unausgesprochene Frage zu erraten. »Dort ist einiges los«, sagte er. »Aber es ist ein bisschen einseitig. Es ist großartig, wenn man sich nur in die Arbeit stürzen will – alle sind dort gleich, sie kennen nichts als die Arbeit. Aber ich bin eher jemand, der ein bisschen was vom Leben mitkriegen will. Es gibt so viele Länder, in denen ich noch nicht war. Dort drüben versteht man das nicht.« Er zuckte die Schultern.
Roz nickte. Sie hatte sich in der Anfangszeit ihres Berufslebens voll darauf konzentriert, einen Platz für sich zu finden und dann die Karriereleiter zu erklimmen. Und die meisten Leute in ihrem Alter hatten das auch getan. Sie hatte damals geglaubt, andere Dinge einfach auf später verschieben zu können, und fand Seans Einstellung erfrischend.
Sie unterhielten sich noch eine Weile, dann machte sie ihre Pflichtrunde, sprach mit Jim Broadbent über die Politik
Weitere Kostenlose Bücher