Nachtengel
ihre Arbeit in der letzten Zeit wusste sie, dass die Männer, die sich diese Frauen kauften, die Neigung oder Sehnsucht nach undefinierbar exotischen Wesen hatten, einem Sexspielzeug ohne echte menschliche Züge. Sie betrachteten diese Frauen als Freiwild für ihre reichlich ausgefallenen Gelüste. Aber Lily, Suzy und Rose waren alle Pseudo-Exotinnen. Wie Fish and Chips in Spanien oder englische Pastete mit Erbsen auf Teneriffa.
Die Tote war Europäerin mit heller Haut. Vier Bilder passten in dieses Schema. Die ersten Fotos waren so klein, dass zu wenig Details zu sehen waren, deshalb überprüfte sie alle Bilder der Reihe nach. Sie erschienen und verschwanden auf dem Bildschirm, eine Prozession nackter Brüste, verführerischer Schenkel und Schmollmünder. Sie hielt bei dem von Jasmine, dann bei dem von Terri inne, die zunächst zu passen schienen, aber bei beiden stimmte der Körperbau nicht.
Sie ging zur Nächsten über. Jemima. Jemima hatte dunkelbraunes Haar und war zierlich wie Dornröschen. Auf dem ersten Bild hatte sie etwas anders ausgesehen, ziemlich alltäglich, eine Frau in Jeans und engem T-Shirt, die in die Kamera lächelte. Das Bild erinnerte Lynne an jemanden. Sie sah frisch, sportlich und unschuldig aus, aber das verstärkte nur noch den Kontrast zu den anderen Bildern. Die restlichen Fotos von Jemima waren ungewöhnlich und beeindruckend. Auf allen war sie nackt, aber aus den Standard-Posen hatte der Fotograf mit Licht und Schatten echte Studien einer im Halbdunkel fast dramatischen, düsteren Atmosphäre geschaffen. Es gab ein Foto, auf dem ›Jemima‹ mit hochgezogenen Knien und aufgestütztem Kinn direkt in die Linse sah. Vielleicht war sie sich gar nicht bewusst gewesen, wie sehr sie sich damit der Kamera auslieferte – die Pose war fast lässig –, aber das mutwillige Lächeln in ihren Augen sprach eine andere Sprache. Es war ein bezauberndes Bild.
Wieder hatte Lynne das vage Gefühl, die Frau irgendwie zu kennen. Lynne runzelte die Stirn und versuchte, sich zu erinnern, aber sie kam nicht darauf. Sie brauchte eine genauere Ansicht vom Gesicht der Frau, um sie Leuten zeigen zu können, die sie vielleicht identifizieren konnten. Sie ging zur nächsten Aufnahme über. Hier lag Jemima im gleichen Bett auf dem Rücken. Ihre Beine waren angewinkelt und gespreizt. Ihre Hände mit gekreuzten Handgelenken waren hoch über den Kopf gestreckt. Lynne vergrößerte den oberen Teil des Bildes, aber es war zu dunkel. Sie konnte nicht sehen, ob die Handgelenke ans Kopfende gefesselt waren, oder ob die Frau sich daran festhielt, aber ihre Arme schienen sehr angespannt. Ihr Gesicht sah gelöst und verführerisch aus. Sie trug ein weißes Mieder und Strümpfe.
Lynne nahm die Fotos vom Tatort aus dem Hefter, den sie mitgebracht hatte. Der Körper der Frau lag mit über dem Kopf zusammengebundenen Händen, hochgezogenen Beinen und gespreizten Knien in der schmalen Badewanne. Bekleidet war sie mit einem verrutschten und fleckigen, weißen Mieder. Das Haar, auf dem Internetbild dicht und glänzend, hing auf diesem Foto wirr und feucht herab. Das Gesicht war nur eine konturenlose, blutige Fläche. Aber alles andere stimmte, die dünnen Arme, die kleinen Brüste und die schmale Taille.
Es klopfte an der Tür, und ohne auf Antwort zu warten, kam jemand herein. Es war einer von Farnhams Leuten, einer seiner Detective Constables, an dessen Namen sie sich nicht erinnern konnte.
»Kommen Sie nicht einfach so rein«, sagte sie knapp.
»Sorry, Ma'am.« Sie sah, dass er auf den Bildschirm blickte, und konnte förmlich seine Gedanken lesen. Angenehme Arbeit, wenn man an so was rankommt. »DCI Farnham schickt Ihnen die hier.« Die restlichen Fotos vom Tatort. Roy Farnham meinte es also tatsächlich ernst mit der Zusammenarbeit.
Sie wies mit einer Handbewegung auf ihre Ablage. Er legte den Hefter hinein und wollte gerade gehen, da rief sie ihn zurück und zeigte auf den Bildschirm. Dieses Gefühl der Vertrautheit … Sie wollte keine Energie mit dem Versuch verschwenden, sich zu erinnern, nur um dann Wochen oder Monate später festzustellen, dass eine Sängerin oder ein Star aus einer Seifenoper eine gewisse Ähnlichkeit mit ›Jemima‹ hatte. »Erinnert Sie sie an jemand?«, fragte sie. Sie sah, dass er zwischen mehreren Möglichkeiten schwankte. Wahrscheinlich sollte man nicht gerade einem jungen Mann von etwa sechsundzwanzig Jahren eine solche Frage stellen, jedenfalls nicht bei so einem Bild. Sie seufzte und
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