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Nachtengel

Titel: Nachtengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danuta Reah
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nahe liegend und vernünftig, aber aus heutiger Sicht war es die falsche Entscheidung gewesen.
    Lynne musste mit Pearse sprechen. In seiner Aussage stand eine Adresse in der Gegend von Orchard Park in Hull, aber keine Telefonnummer. Sie wollte sich nicht quer durch die Stadt quälen, um ihn zu suchen. Vielleicht konnte sie ihn in dieser Beratungsstelle der Flüchtlingshilfe ausfindig machen. Der Koordinator der freiwilligen Helfer, Michael Balit, würde wohl in der Lage sein, ihr dabei zu helfen.
    Aber Balit war wie immer wenig hilfreich. »Matthew Pearse?«, sagte er. »Was wollen Sie von ihm?« Es wäre ein Leichtes gewesen, ihm mit ihrer Autorität als Polizeibeamtin aufzufordern, ihr zu helfen, da sie mit einer Ermittlung befasst war. Aber sie wusste, dass Farnham die Sache zur Zeit nicht an die große Glocke hängen wollte. Die Michael Balits dieser Welt gaben ihr Gelegenheit, sich in Geduld zu üben. Sie erinnerte ihn an den Vorfall mit Katja und gab ihm zu verstehen, ihre Fragen beträfen die Beantwortung von ein paar unwichtigen bürokratischen Fragen. »Wir wollen nur die Akte zu diesem Fall schließen«, war ihre vage Begründung.
    Dies akzeptierte er unbesehen und sagte ihr, die Stelle, wo Pearse arbeitete, nenne sich Welfare Advice Centre. »Wir benutzen das Wort ›Asylant‹ nicht gern«, erklärte er. »Aus offensichtlichen Gründen.« Es hatte eine Serie fremdenfeindlicher Übergriffe auf Flüchtlinge gegeben, seit infolge des Verteilungsplans einige Gruppen nach Hull gekommen waren, durch die die sozialen Dienste bis zur Schmerzgrenze belastet wurden. »Deshalb mussten ehrenamtliche Helfer in die Bresche springen«, sagte Balit. Das Beratungszentrum lag in dem alten Teil des Hafens, der noch nicht saniert worden war. »Wir haben eines der leeren Gebäude dort übernommen«, fuhr Balit fort. »Es war früher ein Geschäft. Wir nutzten es, um gespendete Möbel zu lagern. So ist es auch jetzt noch, aber wir haben Platz für ein Büro gemacht, haben eine Übersetzerin dort hingesetzt, und es ging los.« Offensichtlich konnte er also sehr wohl einiges in Bewegung setzen, wenn er musste. Vielleicht fand er einfach nur, Lynnes Arbeit gehe ihn nichts an.
    »Und Matthew Pearse?«, fragte sie.
    »Na ja, Matthew ist ein ehrenamtlicher Helfer in der Gemeinde hier. Er ist behindert und kann nicht ganztags arbeiten. Aber er hat viel Erfahrung in Gemeinden mit Einwanderern gesammelt, die wir bei uns in Hull nicht haben, deshalb hat er uns hier im Zentrum sehr geholfen.«
    Und dann sah Lynne sich diese neueste Ergänzung des Hilfswerks für Flüchtlinge an. Der alte Laden befand sich in einer Seitenstraße neben einem leeren Lager, das bald niedergerissen oder saniert werden sollte. Die Vorderseite war vernagelt und wirkte mit den durchhängenden, undichten Dachrinnen verlassen. Aber die Tür war in Ordnung, die Schlösser funktionierten, und das Schild an der Tür, das in mehreren Sprachen und Schriften abgefasst war, sah relativ neu aus. Beratungsstelle, Täglich 8.30 – 17.30. Außerhalb der Öffnungszeiten hier läuten. Sie fragte sich, ob sie im Revier Informationen über diese Einrichtung hatten, und nahm ihr Mobiltelefon heraus. Aber das Signal war zu schwach, weil die Gegend tief lag und von hohen Gebäuden umgeben war. Sie konnte das später klären.
    Das Zentrum erinnerte Lynne an den Tante-Emma-Laden, zu dem ihre Großmutter sie oft mitgenommen hatte, um ihr Bonbons zu kaufen, wenn Lynne bei ihr übernachtete. Einen kurzen Augenblick sah sie deutlich das Wohnzimmer ihrer Großmutter vor sich, die raue Strukturtapete mit dem gesprenkelten Muster, die Fliesen um den Kamin und das Bild darüber, ein goldgerahmtes religiöses Motiv mit Wolken, Heiligenschein und Engelsflügeln. Wie viele Jahre lag das zurück? Fünfundzwanzig oder mehr. Einen Moment fröstelte sie. Der Laden neben dem Haus ihrer Großmutter war das letzte Überbleibsel einer abgerissenen Ladenzeile gewesen. Sie erinnerte sich an das Schaufenster mit leuchtend gelben Plastikbananen, die verstaubt und verblasst aussahen, und an die Dosen und Päckchen, die ebenfalls ihren Glanz verloren hatten. An den Laden selbst konnte sich Lynne nur noch undeutlich erinnern, die Kunden waren alt wie ihre Großmutter gewesen. Der Laden hatte ihr mit seiner schäbigen, abgenutzten Einrichtung nie gefallen. Sie mochte lieber Supermärkte mit breiten Gängen und hellem Licht.
    Die Beratungsstelle machte den Eindruck, allmählich zu verfallen. Als Lynne die

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