Nachtengel
auf dem Treppenabsatz unter ihr. Sein »Sorry!« hing noch in der Luft, als er schon weg war. Studenten. Junge Leute. Roz amüsierte diese Energie und Unachtsamkeit; sie riss sie aus ihrer wetterbedingten depressiven Stimmung. Sie hatte sich beim Zählen der Stockwerke verheddert, sah auf dem Treppenabsatz nach der Nummer und fing an, die nächsten fünf Stockwerke hinaufzulaufen. Aber sie kam sich langsam und schwerfällt vor im Vergleich zu dem sportlichen jungen Mann.
Als sie im Geschoss N ankam, war sie nicht allzu sehr außer Atem und erlaubte sich einen Moment der Zufriedenheit, der aber nur so lange andauerte, bis sie durch die Tür ihres Büros kam und Joanna dort schon wartend vorfand. Roz warf noch einen Blick auf die Uhr, als Joanna schon sagte: »Ich hatte dich heute früher erwartet.«
Es war erst zehn nach neun, aber der ungünstigste Tag, um sich zu verspäten. »Parkprobleme«, erklärte sie. »Gibt es Neuigkeiten von Gemma?«
Joannas Gesicht war starr. »Der hier ist heute Früh angekommen. Am Samstag in Sheffield abgeschickt.« Sie hielt einen zusammengefalteten Brief in der Hand. »Du solltest ihn lesen.«
Roz sah Joanna an und nahm den Brief. Er war auf dem offiziellen Briefpapier der Universität geschrieben und trug das Datum vom Freitag:
Liebe Frau Dr. Grey,
persönliche Umstände machen es mir unmöglich, meine Arbeit mit der Law-and-Language-Gruppe fortzusetzen. Deshalb spreche ich meine Kündigung zum heutigen Datum aus. Ich bedaure, Ihnen meine Absicht nicht früher mitgeteilt zu haben.
Mit freundlichen Grüßen
Gemma Wishart
Roz war völlig verwirrt. Sie erinnerte sich an ihr Gespräch von letzter Woche und an Gemmas Sorge, dass sie mit dem Bericht für DI Jordan in Verzug sein könnte, an Gemmas Klausurpläne für die Studenten und ihre laufenden Forschungsaufgaben. Sie konnte nicht glauben, dass Gemma zu der Zeit geplant haben sollte, ihre Arbeit plötzlich und ohne Vorwarnung aufzugeben. Offensichtlich hatte sie es auch nicht mit Luke besprochen, sonst hätte er nicht mit der Polizei und den Krankenhäusern Kontakt aufgenommen. Sie erinnerte sich an seine Worte vom Sonntag: »Sie kehrt dorthin zurück, wenn die Forschungsmittel für ihr Projekt hier auslaufen.« Er und Gemma hatten über die Zukunft gesprochen, aber über diese Sache hatte er nichts gewusst. Was war geschehen? Was für Probleme hatte Gemma? Persönliche Umstände …
»Machst du dir keine Sorgen?«, fragte sie. »Wegen Gemma?« Gemma war Joannas Schützling. Joanna hatte Roz gegenüber oft geäußert, welch glänzende Karriere sie Gemma zutraute.
Joanna runzelte die Stirn und starrte in die Luft. »Gemma plante schon seit längerer Zeit, eine Weile von hier fortzugehen«, sagte sie. Gemma hatte dies also mit Joanna und mit Luke besprochen. Nur Roz hatte sie nicht informiert. »Sie hat mehrmals finanzielle Unterstützung für die Rückkehr nach Nowosibirsk beantragt«, fuhr Joanna fort. »Ich will sie nicht verlieren, habe es aber befürwortet. Die Universität dort ist ausgezeichnet, und wenn das die Richtung ist, die Gemma einschlagen will, dann ist sie dort besser dran als hier.« Zwischen ihren Augenbrauen entstand eine kleine Falte, und sie sagte: »Ich hatte allerdings nicht erwartet, dass sie es auf diese Art und Weise tun würde.« Nach kurzem Schweigen fasste Joanna sich wieder. »Aber ich habe jetzt dafür keine Zeit. Wir müssen uns um die Situation hier kümmern. Diese Jordan hat vor einer Stunde angerufen und nach dem Bericht gefragt. Ich kann ihn nicht finden.«
Roz erinnerte sich. Sie hatte versprochen, ihn am Freitag abzuschicken, und es vergessen. »Ich erledige das«, sagte sie diplomatisch.
Joanna nickte. »Ich will mir Gemmas Schreibtisch ansehen und auch ihren Aktenschrank«, sagte sie. »Ich muss genau herausfinden, was fehlt.«
Hull, Montag
Lynne befasste sich mit dem Bericht, den Farnhams Arbeitsgruppe zusammengestellt hatte, nachdem Katjas Leiche gefunden worden war. Sie war von einem gewissen Matthew Pearse, einem ehrenamtlichen Helfer bei einer Beratungsstelle der Flüchtlingshilfe, in der Nähe des alten Hafens zur Notaufnahme gebracht worden. Lynne las seine Aussage durch. Sie hatte es vorher so verstanden, dass Katja auf der Straße gefunden wurde, aber als sie Pearses Aussage jetzt las, wurde ihr klar, dass Katja tatsächlich selbst zur Beratungsstelle gekommen war und um Hilfe gebeten hatte. Pearse hatte sie wegen ihres Zustands in die Klinik gebracht. Es war
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