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Nachtengel

Titel: Nachtengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danuta Reah
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sauberen Handtuch ab, das die Frau ihr gab.
    »Danke, Mrs. Rafiq«, sagte Lynne. »Ich interessiere mich für die Sozialdienste für Flüchtlinge. Es ist heute sehr ruhig hier.«
    Rafiq machte eine abwägende Handbewegung. »Ist ruhig, ist viel los«, sagte sie, was Lynne als mal so, mal so, deutete. Die Frau schien nicht sehr gut Englisch zu sprechen, hatte aber kaum Probleme, Lynne zu verstehen.
    Sie gingen in das kleine Büro zurück, und Lynne nahm eines der Bilder von Katja heraus, das von der Überwachungskamera stammte und Katja beim Verlassen des Krankenhauses zeigte. Es war von hinten aufgenommen, sodass das Gesicht nur undeutlich im Profil zu sehen war. Aber es zeigte ihr dunkles Haar. Sie legte es auf den Tisch, und die Frau beugte sich interessiert vor.
    Plötzlich ging die Ladentür auf, und ein Mann kam mit einem Stoß Schachteln herein. Lynne bemerkte, dass er sich unbeholfen bewegte. Als er sie sah, blieb er stehen. Lynne lächelte und gab ihm die Hand. »Mr. Pearse?«, fragte sie. Er stellte die Schachteln auf dem Schreibtisch ab, blickte Nasim fragend an und schüttelte Lynne die Hand. Es war schwer zu sagen, wie alt er war. Sein Haar war weiß, und er ging vornübergebeugt wie ein alter Mann, aber sein Gesicht sah jünger aus.
    Sein Blick fiel auf das Foto, und er trat näher. »Haben Sie … Wissen Sie …?« Er stotterte leicht. Michael Balit hatte ihr gesagt, Matthew Pearse sei behindert.
    »Ist Polizei«, sagte Nasim Rafiq schnell und hielt den Blick auf Pearse' Gesicht gerichtet.
    »Mr. Pearse«, sagte Lynne. »Ich habe gehört, dass Sie diese Frau gefunden und ins Krankenhaus gebracht haben.«
    Einen Augenblick schien er verwirrt. »Nein. Ich meine, ja … das heißt …« Lynne wartete, bis er seinen Satz zusammenbekam. »Ich habe sie ins Krankenhaus gebracht«, sagte er. »Aber sie hat zu uns gefunden.« Lynne merkte, wie Nasim Rafiq sich schützend an seine Seite gestellt hatte. »Ich habe eine Aussage gemacht«, fügte er hinzu.
    »Können wir hier irgendwo miteinander reden?«, fragte Lynne. Nach kurzem Zögern nickte er und führte sie in das hintere Zimmer, das sie schon gesehen hatte. Lynne merkte, dass Nasim Rafiq ihr nachsah, als sie die Tür schloss. Sie setzte sich auf den Stuhl und gab sich entspannt und freundlich im Sinne von: Sie können mir helfen, als sie mit ihm seine Aussage durchsprach. Es half ihr immer, wenn sie sich die Stimme eines Zeugen anhören und sein Gesicht beobachten konnte. Pearse hatte dem, was sie schon wusste, nur sehr wenig hinzuzufügen. Er arbeite ehrenamtlich für das Beratungszentrum, erklärte er Lynne. »Im Moment sind wir nur zu zweit«, sagte er. »Wir sind noch nicht richtig eingerichtet. Aber es spricht sich herum, und es wird mehr zu tun geben. Es ist von Tag zu Tag unterschiedlich.« Er hatte etwas Mühe mit dem Sprechen und klang durch ein leichtes Stottern langsam und zögernd. »Wir haben das hier als Lager für Kleider und Möbel genutzt«, sagte er. »Aber jetzt bekommen wir hier oben Asylbewerber rein. Sie brauchen viel Unterstützung, solange …« Er mühte sich mit seinem Stottern ab.
    »Solange noch nicht entschieden ist?«, half ihm Lynne. Er sah sie an. »Ob ihre Anträge rechtmäßig oder ob sie Scheinasylanten sind«, erklärte sie.
    »Ich mache diese Unterscheidung nicht.« Seine dunklen Augen sahen sie direkt an. Durch seine Behinderung, eine leichte Rückgratverkrümmung, hatte er zaghaft und zurückhaltend gewirkt, was durch seinen Sprachfehler noch verstärkt wurde, aber er war ruhig und selbstsicher. »Armut kann genauso schlimm sein wie politische Unterdrückung. Ich würde genauso handeln, wenn ich jung wäre. Oder wenn ich Kinder hätte.«
    Es war eine Bemerkung, die vom Thema wegführte, aber interessant war. Dieser Mann brachte den Flüchtlingen also Sympathie entgegen und hatte Kontakte. War Katja deshalb hierher gekommen? »Erzählen Sie mir von der Frau, die zur Beratungsstelle gekommen ist, Mr. Pearse.«
    Er fing sich und bewegte ein- oder zweimal die Lippen, bis er die rechten Worte fand. »Sie kam am … ich kann mich nicht an das Datum erinnern. Aber ich kann nachsehen.« Er hielt inne und wartete auf eine Reaktion, aber Lynne schwieg. »Sie sprach nur sehr schlecht Englisch, aber sie war verletzt. Jemand hatte sie, glaube ich, ziemlich schlimm zusammengeschlagen.« Die Anstrengung, nicht zu stottern, ließ seine Stimme ruhig klingen, aber sein Gesicht war zornig.
    »Warum ist sie zu Ihnen gekommen?«

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