Nachtengel
Lynne fragte sich, ob das Zentrum als ein Ort bekannt war, wo man Hilfe leistete, ohne Fragen zu stellen.
Pearse schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Bevor ich daran dachte, sie zu fragen … brachte ich sie ins Krankenhaus.«
Lynne nickte ihm zu, fortzufahren. »Ich setzte sie am Eingang ab und sagte ihr, wohin sie gehen solle, und dass ich reinkommen würde, wenn ich den Wagen geparkt hätte. Ich weiß nicht, ob sie mich verstand. Ich sah, wie sie reinging, und lief dann los, um das Auto abzustellen.« Er lächelte Lynne zu. »Es dauerte eine Weile. Und ich rief Nasim an, um ihr zu sagen, was los war. Bis ich ein Telefon fand, verging etwas Zeit. Als ich wieder zurückkam, hatten sie sie schon ins Behandlungszimmer geholt. Ich wartete und ging dann spazieren. Mein Rücken schmerzte vom Sitzen in diesen Stühlen. Als ich zurückkam, sah ich sie. Sie kam aus der Klinik und ging zum Parkplatz. Dann winkte sie jemandem zu.« Er fing Lynnes Blick auf. »Von der Stelle, wo ich stand, sah ich niemanden. Und als ich näher kam, war sie weg.«
»Hatten Sie den Eindruck, dass sie jemanden gesehen hatte, den sie kannte?«, fragte Lynne.
Er zögerte. »Ich glaube schon, ja.«
»Was haben Sie dann getan, Mr. Pearse?« Wenn er doch jemanden … »Haben Sie irgendwo angerufen? Mit jemandem in der Klinik gesprochen?«
»Ich wusste, dass die Klinik die Polizei angerufen hatte«, sagte er. »Ich sah die Beamten reingehen. Ich dachte, sie sei deshalb weggelaufen.« Er sah auf seine Hände hinunter und hob dann wieder den Blick. »Ich dachte damals, dass sie als Prostituierte gearbeitet hatte«, sagte er. »Ich wollte sie nicht in Schwierigkeiten bringen, so wahr mir Gott helfe. Ich dachte, ich hätte sie überzeugt, nach der Behandlung in der Klinik wieder zur Beratungsstelle zurückzukommen.« Er sah niedergeschlagen aus.
Es war mehr oder weniger das, was er in seiner ursprünglichen Aussage erklärt hatte. Er war ins Zentrum zurückgekehrt, wo Nasim mit einem Ansturm von Besuchern fertig zu werden versuchte. »Wir hatten an dem Abend bis spät geöffnet«, erklärte er. »Neue Leute waren angekommen. Ich dachte noch, dass wir Glück hatten.« Sie arbeiteten lange, damit alle drankamen, dann hatte er Nasim nach Hause gefahren. »Es ist nachts im Bus zu gefährlich für sie«, erklärte Pearse.
Nasim Rafiq hatte kaum etwas hinzuzufügen. Sie hatte die Frau gesehen, als sie ins Zentrum kam, und hatte später Matthew gesehen, als er aus der Klinik zurückkam. Lynne ließ sich ihre frühere Aussage bestätigen und bemerkte dabei, dass Rafiq nervös an den Fransen ihres Schals herumzupfte. Ihre Nägel waren abgekaut. Lynne sprach ruhig die Einzelheiten der Aussage durch. Rafiq begleitete sie zur Tür der Beratungsstelle und lächelte ihr wieder zögernd zu.
Während Lynne, tief in Gedanken versunken, auf das Grün der Ampel wartete, trommelte sie auf das Steuerrad. Sie hatte alle Informationen erhalten, die sie wollte, anscheinend war in den früheren Aussagen nichts übersehen worden – aber sie musste doch noch einmal mit Nasim Rafiq reden. Sie wollte wissen, woher diese nervöse Wachsamkeit der Frau kam, warum sie versucht hatte, Matthew Pearse zu warnen, bevor er mit ihr sprach. Es würde der Mühe wert sein, Mrs. Rafiq noch einmal zu besuchen.
Sheffield, Montag
Als Roz später am Vormittag leicht an die Tür des Computerzimmers klopfte und sie zögernd aufstieß, war Luke in die Arbeit vertieft. Er saß vornübergebeugt und starrte die Bilder auf seinem Monitor an. »Kaffee?«, fragte sie und wurde sich bewusst, dass sie in dem typisch rücksichtsvollen Tonfall sprach, den man normalerweise gegenüber Verwundeten und Kranken anschlägt. Und nach einem Räuspern noch einmal: »Kaffee?«
Luke schlug mit der flachen Hand auf die Tastatur. »Scheiße!« Er klang angespannt und ärgerlich und schaltete den Monitor aus.
Roz hatte keine Lust, lange herumzustehen. »Heißt das ja oder nein?«, sagte sie mit fragendem Blick auf die Kanne. Lukes Schweigen deutete unterdrückten Ärger an. Sie beachtete das nicht und goss zwei Becher ein, spülte die Kanne aus und füllte frisches Kaffeepulver ein. Sie stellte ihm eine Tasse hin und setzte sich auf den Stuhl neben ihm.
»Danke«, kam die unwillige Reaktion, aber wenigstens sprach er mit ihr.
»Joanna sagte, dass du noch einmal mit dem Krankenhaus und der Polizei gesprochen hast.«
»Alles Zeitverschwendung, scheint mir.« Er drehte sich auf dem Drehstuhl zu ihr um.
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