Nachtengel
Sie enthielt Fotos der Website des Angel-Escort-Service, Fotos von Dornröschen: das Bild in Jeans und T-Shirt, auf dem Des Stanwell sie für eine ›piekfeine Studentin‹ gehalten hatte, und die Aufnahme ihres Gesichts auf dem Bett, bei der die Körperhaltung genau mit der Position der Leiche übereinstimmte. Den ganzen Nachmittag hatte sie nach Angel Escorts gefragt und jemanden gesucht, der ›Jemima‹ auf den Fotos erkannte.
Aber niemand konnte ihr weiterhelfen, weder bei Dornröschen noch bei Angel Escorts. Sie war nicht überrascht, dass die Gruppen, die sich um die Flüchtlinge kümmerten, nicht informiert waren, aber sie hatte doch gehofft, durch die hiesigen Prostituierten etwas herausfinden zu können. Lynne hatte zu einigen von ihnen einen ganz guten Draht. Sie glaubten ihr, dass sie sie nicht vertreiben oder festnehmen wollte, und betrachteten sie als eine der kleineren Gefahren ihres Lebens, in dem es von Risiken nur so wimmelte. Aber heute hatten sie ausweichend und kurz angebunden reagiert. Lynne fragte sich, ob sie Angst hatten, und hoffte nun, von Marie in der relativ geschützten Umgebung des Cafés bereitwilligere Auskunft zu erhalten.
Zehn Minuten später kam Marie und sah sich ängstlich in der Bar um, bevor sie sich zu Lynne setzte. Obwohl sie selbst dieses Pub als Treffpunkt vorgeschlagen hatte, schien sie nervös und verunsichert. »Ich kann nicht lange bleiben«, sagte sie, sobald sie sich gesetzt hatte.
Lynne fragte, ob sie etwas trinken wolle, aber sie lehnte ab und zündete sich eine Zigarette an, ohne Lynne eine anzubieten. »Nicht während der Arbeit«, sagte sie. Ihr hellblondes Haar war hochgesteckt, und sie war geschickt, wenn auch auffallend geschminkt. Lynne fragte sich, wie alt sie wohl sei. Marie selbst gab dreißig zu, sah aber mindestens zehn Jahre älter aus.
Sie betrachtete das erste Foto von Jemima. »Nie gesehen«, sagte sie abweisend. Aber das hieß nicht viel. Marie arbeitete auf der Straße. Alles auf den Straßen war bis zu einem gewissen Grad offen zugänglich und bekannt. Wenn Jemima eine der Frauen gewesen war, die illegal ins Land geschleust wurden, war es gut möglich, dass sie streng bewacht worden war, obwohl diese Überwachung irgendwann nicht mehr geklappt hatte.
Lynne wartete einen Moment, ob Marie noch etwas sagen wollte, aber sie blieb stumm. Also machte Lynne weiter. »Gehen von diesen Frauen, die ich suche«, sagte sie, »die eingeschleust worden sind, auch einige auf die Straße? Hast du welche bei der Arbeit gesehen?«
Marie zuckte die Schultern. »Ein paar«, sagte sie vorsichtig, sah Lynne kurz in die Augen und senkte dann den Blick. »Sie machen absolut alles«, sagte sie. »Wie die Junkies machen sie sich einen Dreck draus, sie wollen einfach nur die Kohle.« Was kann ich machen? Sie musste ihren Unterhalt verdienen.
»Kennst du einige von ihnen?«, fragte Lynne. »Weißt du, für wen sie arbeiten?«
Marie schüttelte den Kopf. »Ich halt mich von denen fern«, sagte sie. »Ich bin doch nicht blöd.«
Marie wusste wahrscheinlich mehr, als sie sagte, aber Lynne wollte sie momentan nicht zu sehr bedrängen. »Ich versuche eine von den Agenturen zu finden«, sagte sie. »Es ist eine im Internet.« Marie zog an ihrer Zigarette und hörte zu.
»Sie nennt sich Angel«, sagte Lynne. »Angel Escorts.«
Marie sah sich schnell im Raum um. Lynne nahm eine Kopie der Geschäftskarte heraus und schob sie ihr über den Tisch zu. Marie beachtete die Karte nicht, sondern sah auf die Uhr und dann über den Tisch zu Lynne. »Ich muss gehen«, sagte sie abrupt und stand auf. »Ich hab ja gesagt, dass ich nicht lange bleiben kann.«
»Marie«, sagte Lynne. »Was ist mit Angel Escorts?«
»Nie davon gehört«, sagte Marie und zog dabei ihren Mantel an.
»Marie …«, sagte Lynne.
»Ich hör mich mal um«, sagte Marie.
»Tu das«, sagte Lynne. Sie sah Marie mit einem Blick an, der ihr klar machte, dass ihr immer noch die Anklage drohte.
Marie zog nervös an dem Kragen. »Ja«, sagte sie und entfernte sich rückwärts gehend vom Tisch. »Ich rufe an.« Sie tat das ja normalerweise immer dann, wenn sie blank war. Lynne sah Marie hinausgehen und nippte noch einmal an ihrem Kaffee. Er war jetzt nicht nur bitter, sondern auch kalt. Sie brachte ihn an den Tresen zurück und bekam nach einem Wortwechsel mit der jungen Frau hinter der Theke eine Tasse frischen Kaffee. Sie wandte sich gerade vom Tresen ab, als sie fast mit einem Mann zusammenstieß, der mit einem
Weitere Kostenlose Bücher