Nachtengel
»Etwas stimmt nicht.« Er fuhr sich durchs Haar. »Pass auf, Roz, es ist …« Sie wartete, aber er schüttelte den Kopf. »Nichts … ich hab einfach kein gutes Gefühl. Grey macht sich nur Sorgen wegen der Arbeitsgruppe. Und du …« Er klang müde.
»Hör zu«, sagte sie. »Ich habe mit Joanna gesprochen. Sie weiß, dass Gemma sich um Stipendien beworben hat, um nach Russland zurückkehren zu können. Sie hat sie dabei unterstützt.« Sie sah seinem Gesicht nicht an, ob ihm das neu war oder nicht. »Joanna macht sich Sorgen. Es ist nur so, dass sie es zwar schafft, sich um die Finanzierung und alles zu kümmern, aber sie kann sich nicht auch noch um die Leute sorgen.«
Luke zuckte die Schultern. »Dann ist es ja gut«, sagte er.
»Ach …« Roz holte tief Luft. Wenn sie jetzt bei Luke die Nerven verlor, würde das gar nichts bringen. Sie wollte ihm sagen, sie sei sicher, dass alles wieder in Ordnung kommen werde, aber sie erinnerte sich daran, dass ihr Freunde nach Nathans Krankheit auch diese Art von gut gemeintem Trost zusprachen, alles werde schon wieder gut werden, Nathan werde wieder gesund. »Woher willst du das wissen?«, hatte sie eine Freundin ärgerlich gefragt. »Ich weiß es einfach«, hatte diese gesagt. »Ich fühle es.« Roz wollte keinen falschen Trost von Menschen, die behaupteten, eine Art direkte Verbindung zur Vorsehung zu haben, sie wollte, dass ihr die Fachleute Hoffnung machten, aber von denen kam keine mehr. Jeder Versuch, Luke auf solche Art zu unterstützen, wäre herablassend und naiv. Aber schließlich gab es noch das Thema Arbeit. »Hast du es geschafft, die Dateien wieder zu finden?«
Er zeigte auf den Monitor vor sich. »Nichts. Ein paar Bruchstücke. Ich verstehe nicht, wie …«
Sie sah ihn genauer an. Sein Gesicht war abgespannt und unrasiert, und die Unruhe und der Glanz in seinen Augen ließen sie vermuten, dass er vielleicht etwas genommen hatte, um wach zu bleiben. »Luke, wie lange hast du daran gearbeitet? Hast du überhaupt geschlafen letzte Nacht?«
»Ach, verdammt noch mal, Roz! Hör doch auf, mich zu bemuttern.« Aber seine Stimme war jetzt wieder normal wie die des Luke, den sie kannte. Er lächelte ihr zu, und wenn sie ihn nicht so gut gekannt hätte, wäre ihr sein Lächeln auch echt vorgekommen. »Geh und kümmere dich um deine Chefin. Sie muss sich um ihre Geldmittel Sorgen machen.«
Roz zog eine Grimasse. Du machst mir nichts vor, Hagan . Sie trank ihren Kaffee aus und stand auf. »Lass uns zusammen im Broomgrove essen«, sagte sie, bereute es aber gleich darauf. Sie hatten öfter im Pub zusammen zu Mittag gegessen, vor seiner Beziehung zu Gemma.
Aber er schien nichts dabei zu finden, nickte nur und sagte: »Okay. Gib mir Bescheid, wenn du so weit bist.« Dann wandte er sich wieder seinem Bildschirm zu.
Hull, Montagabend
Die Bar war fast leer. Am Ende des Tages saßen nur hier und da ein paar Gäste an den Tischen und tranken. Lynne Jordan nippte an ihrem Kaffee und schüttelte sich. Alt. Er hatte wohl den ganzen Nachmittag auf der Heizplatte gestanden. Sie überlegte, ob sie eine frische Tasse verlangen sollte, London und Leeds hatten sie verwöhnt. Dort hatte sie sich an guten, frischen Kaffee und gut besuchte, interessante Cafés und Imbissstuben gewöhnt. Hull war dabei, sich zu entwickeln, war aber eine Stadt, die die Hauptquelle ihres früheren Reichtums verloren und noch keinen Ersatz gefunden hatte.
Sie sah auf ihre Uhr. Eine ihrer Kontaktpersonen hatte sich hier mit ihr verabredet. Marie arbeitete als Prostituierte auf den Straßen um den alten Hafen herum. Früher hatte sie für Begleitagenturen gearbeitet, was sicherer war, aber wie viele Frauen, die das Wagnis der Prostitution auf sich nahmen, rutschte sie von Begleitdame über Callgirl und Straßenmädchen immer weiter nach unten. Lynne sah wieder auf die Uhr. Marie hätte schon vor ungefähr fünfzehn Minuten da sein sollen. Viel Verspätung war das bei ihrer Unpünktlichkeit nicht, die sie bei früheren Treffen an den Tag gelegt hatte, aber Lynne hatte erwartet, dass sie diesmal pünktlich kommen würde. Es war ihr gelungen, Marie eine Verwarnung wegen öffentlicher Prostitution zu ersparen, die ihr schon oft gedroht hatte und das letzte Mal tatsächlich zu einer Freiheitsstrafe geführt hätte. Also schuldete Marie ihr einen Gefallen, für den Lynne noch einmal von einer Anklage absehen würde.
Sie öffnete die kleine Mappe, die sie schon den ganzen Nachmittag mit sich herumtrug.
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