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Nachtengel

Titel: Nachtengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danuta Reah
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nicht weiter. »Und Sie?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nicht verheiratet, keine Kinder.« Mehr fiel ihr dazu nicht ein. Der Kellner brachte die Pizza, und Farnham steuerte während des Essens die Unterhaltung wieder auf das Thema Arbeit zurück. »Niemand hat sie erkannt?«, sagte er an das anknüpfend, worüber sie im Pub gesprochen hatten.
    »Bis jetzt nicht«, erwiderte Lynne. »Mir sind mehr oder weniger die Leute ausgegangen, die ich fragen könnte.« Das Foto lag zwischen ihnen auf dem Tisch. Als Lynne Jemimas Gesicht betrachtete, kam ihr das Tonband mit Katja wieder in den Sinn. Eine piekfeine Studentin … diese Augen … Sie sah plötzlich das Bild einer Frau vor sich, die bei einer Seminarveranstaltung sprach und einen Witz über einen Mann machte, der nach obszönen Anrufen eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte. Sie sah kurz von ihren Notizen auf. Es war eine ziemlich schüchterne Frau gewesen, aber mit einem Sinn für Humor. Natürlich! Es war Gemma Wishart, die Spezialistin für forensische Linguistik, an die Jemima sie erinnerte. Wieder mal eine der merkwürdigen Verbindungen, auf die sie bei ihrer Arbeit immer wieder stieß. Sie war froh, dass sie endlich das Gefühl des Vertrautseins, das sie nicht mehr los wurde, aufgeklärt hatte, auch wenn es nichts half.
    Die Ähnlichkeit war jetzt, wo sie genauer hinsah, sehr ausgeprägt … Aber das war ja lächerlich! Gemma Wishart arbeitete in Sheffield an dem Katja-Tonband. Allerdings … Sie erinnerte sich an den Anruf vom Freitag. Der von Gemma Wishart zugesagte Bericht war nicht gekommen, die Frau, mit der sie gesprochen hatte, klang aufgeregt und unsicher, und Wishart selbst war nicht zu sprechen gewesen, weder damals noch bei Lynnes zweitem Anruf. Sie versuchte, sich das Gesicht der jungen Frau vorzustellen, die sie bei dem Seminar kennen gelernt hatte, aber jetzt schob sich immer das Gesicht von ›Jemima‹ dazwischen, und sie war unsicher, ob sie sich auf ihr Gedächtnis verlassen konnte oder ob sie etwas sah, das nicht wirklich existierte. Es musste ein Zufall sein.
    Sie blinzelte und merkte, dass Farnham sie gespannt ansah. »Tut mir Leid. Mir ist gerade klar geworden, an wen Jemima mich erinnert.« Sie schaute wieder auf das Bild. »Ich hoffe, dass das alles ein Zufall ist«, sagte sie.
    Anna wartete, bis es dunkel wurde. Es war den ganzen Tag bedeckt gewesen, und um vier Uhr legten sich schon die stumpfen Schatten des Abends über die Stadt und die Sicht auf Gebäude und Schaufenster fing im Dunst an, sich zu verwischen. Die Straßenlaternen standen drohend im feuchten Nebel, als Anna durch die immer leerer werdenden Straßen ging. Sie hatte den Tag damit verbringen wollen, in der Stadtmitte von einem Kaufhaus ins andere zu gehen, um sich dort gegen die Kälte einer weiteren Nacht im Freien zu wappnen. Sie hatte gehofft, einen ruhigen Ort zu finden, wo sie sich hinsetzen und vielleicht ein paar Minuten schlafen konnte, aber nach der Begegnung am Morgen wagte sie es nicht. Wenn die Geschäfte sich gegenseitig gewarnt oder die Polizei angerufen hatten? Sie war zu nervös, um stehen zu bleiben oder einfach nichts zu tun, und die Verwirrung durch Hunger und Erschöpfung fing an, sich bemerkbar zu machen.
    Sie musste etwas tun, musste eine Entscheidung treffen, bevor sie zu schwach wurde, zu handeln oder sich für etwas entschließen zu können. Bis zum Mittag war der Hunger so quälend, dass ihr schwindelig wurde und sie ihre Umgebung ganz hell und fast unwirklich wahrnahm, während sie über das Kopfsteinpflaster zum Hafen zurückging. Sie musste sich etwas zu essen besorgen. Sie fühlte den kalten Schweiß im Rücken und wusste, wenn sie auf der Straße zusammenbrach, würde man sie in eine Klinik bringen, und dann … Ihre Augen prüften jeden Passanten, ob er freundlich und mitfühlend sein mochte, aber auch nicht zu freundlich, nicht zu mitfühlend. Ihr verwahrlostes Äußeres würde jedem deutlich klar machen, was sie wollte.
    Sie hatte versucht, eine Frau anzusprechen, aber ihr »Bitte …« klang nur wie ein krächzendes Flüstern, das die Frau nicht hörte. Sie versuchte es noch einmal, ein bisschen lauter: »Bitte …« Aber die Frau ging vorbei und sah auf den Boden. Nach dem ersten Mal wurde es leichter, doch die Leute beachteten sie nicht, wichen ihr aus oder gingen auf die andere Straßenseite, wenn sie ihr entgegenkamen und sie von weitem sahen. Sie fiel auf. Gegen die Kälte hatte sie sich fester in den

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