Nachtengel
Mantel gewickelt. Eine Frau ging an ihr vorbei. Anna versuchte es noch einmal. »Bitte …?«
Die Frau sah sie an. »Tut mir Leid«, sagte sie. »Ich habe Sie nicht gesehen.« Sie suchte in ihrer Geldbörse, wich aber Annas Blick aus. Sie hielt Anna eine Münze hin, die einen Moment erstarrte, sie aber dann doch nahm.
»Danke …« Aber die Frau war schon weitergegangen. Sie sah nach, was sie ihr gegeben hatte. Eine Zwei-Pfund-Münze. Sie konnte sich davon etwas Warmes und Sättigendes kaufen. Sie musste etwas essen, damit sie wieder zu Kräften kam. Unten auf dem Markt gab es einen Imbiss-Stand. Sie hatte sich eine Tüte mit Pommes gekauft, schlich in eine Seitenstraße, um zuerst die Wärme zu genießen, bevor sie sie aß. Ein paar junge Kerle drängten sich an ihr vorbei und drückten sie gegen die Wand. »Pennerin!«, rief einer von ihnen. Sie erstarrte. Noch einmal: »Pennerin!« Sie verschwanden unter rauem Gelächter um die Ecke.
Nachdem sie gegessen hatte, fühlte sie sich besser und konnte wieder denken. Sie hatte den Rest des Geldes für eine Tüte Bruch-Kekse und für eine Tasse Tee ausgegeben. Sie musste planen, was zu tun war, musste zum Haus zurückgehen, wo ihr Zimmer war. Einen Busfahrschein konnte sie sich nicht leisten. Sie würde etwa eine halbe Stunde unterwegs sein, eine beängstigende Aussicht bei der Kälte und ihrem Zustand. Dann könnte sie warten, bis alles still war, und sich hineinschleichen. Sie würde all ihre Sachen holen, ihre Papiere, vielleicht die Kleider. Wenn es leise und niemand in der Nähe war, könnte sie sich vielleicht waschen. Da sie keine Münze einwerfen konnte, nur mit kaltem Wasser, aber wenigstens würde sie sich sauber fühlen. Wenn sie erst einmal ihre Papiere hatte, konnte sie fliehen.
Jetzt war es dunkel genug, und der Nebel, der alles undeutlich erscheinen ließ, würde ihr helfen. Vielleicht würde keiner auf sie warten, vielleicht wusste niemand, dass sie da war. Aber sie konnte nicht sicher sein. Angel! Vor achtzehn Monaten. »Ich kassiere immer ab«, hatte er gesagt. »Versuch nicht, mich zu betrügen.« Aber Anna hatte es doch getan. Sie war weggelaufen. Ihre Mutter hatte ihr geholfen, mit ihr gesprochen, und Anna hörte immer noch ihre Stimme: Annakin, Anna, du musst gehen, bevor es zu spät ist. Sie war wachsam gewesen und hatte auf eine Gelegenheit gewartet, war so still und folgsam gewesen, wie er nur wollte, hatte alles getan, was er von ihr verlangte. Und die ganze Zeit hatte sie gedacht: Morgen. Morgen werde ich gehen. Oder übermorgen. Bald.
Vor sechs Monaten. Das Zimmer war dunkel, nur die Tischlampe warf einen gelben Schein neben dem Bett. Angel hatte ihr den Mann persönlich vorgestellt. »Er ist ein ganz besonders guter Freund von mir, Anna«, hatte er lächelnd gesagt und ihr übers Gesicht gestrichen, eine halb zärtliche, halb drohende Geste. Anna hatte versucht, den Blick vom Gesicht des Mannes und von seinen Augen abzuwenden, die sie in ihren Seide- und Spitzendessous begutachteten. Er hatte nach Alkohol und nach irgendeinem süßlichen Wässerchen gerochen, was den Geruch von Schweiß und Erregung kaum überdeckte. Angel hatte ihr einen langen Blick zugeworfen, den sie nicht recht deuten konnte. Ihr Magen krampfte sich vor Beklemmung zusammen. Etwas stimmte nicht. Und dann ging er, und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass sie den Schutz verloren hatte, unter dem sie sonst stand.
Sie unterdrückte ihre Angst. Angel würde sie schützen. Sie war wertvoll. »Meine Investitionen lohnen sich immer. Vergiss das nicht. Bei mir bist du gut aufgehoben.« Sie lächelte ihr strahlendes, einladendes Lächeln und hörte dabei Angels Stimme, die sie lobte: »So ist es gut, Schätzchen.« Sie zog sich hinter ihre Maske zurück und ließ mit ihrem Körper alles geschehen, als sei er eine mechanische Puppe. Aber wegen des Alkohols klappte es bei dem Mann nicht, und das machte ihn wütend und grausam, oder vielleicht hatte er auch nur einen Vorwand für die Dinge gesucht, die er tun wollte, ohne zuzugeben, dass er sie sich wünschte. Anna wusste, wie stimulierend Grausamkeit war. Ihre Mutter, ihre Schwestern, sogar die kleine waren inmitten einer rasenden Ekstase gestorben, die mit Messer, Faust und Flamme wütete. Anna hatte die Leichen gesehen.
Der Mann kniff so fest in ihre Brustwarze, dass sie sich nicht zurückhalten konnte und aufschrie, und er biss tief in die zarte Haut an der Innenseite ihres Oberschenkels. Sie begriff nicht, warum
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