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Nachtengel

Titel: Nachtengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danuta Reah
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fielen ihr fast zu.
    »Zur Zeit ist niemand hinten«, sagte er. »Komm mit.«
    Sie stand auf und folgte ihm durch die andere Tür. Hinter dem Büro war noch ein etwas größeres Zimmer mit einer kleinen Couch und einem Sessel. Das Zimmer war kalt. Doch es gab einen Gasofen, den er anzündete, aber er musste ein zweites Mal ungeduldig auf den Zündknopf drücken, weil er nicht gleich ansprang. Sie sank auf den Rand der Couch und schlang gegen die Kälte ihre Arme um ihren Oberkörper. »Es wird bald warm«, sagte er. »Heute Nacht ist niemand in diesem Zimmer.« Er nahm die Decke, die über die Lehne der Couch hing, und legte sie ihr um die Schultern. Wieder nahm sie den Geruch ihrer Kleider wahr, und dass auch sie selbst roch. Sie wollte mit ihm reden, fühlte aber das bisschen Wärme im Körper und wie ihre eisigen, tauben Füße zu prickeln begannen. Der Schlaf senkte sich wie ein Schleier über ihr Bewusstsein, sie schloss die Augen und ließ den Kopf nach vorn sinken. Nur schlafen.
    Als sie spürte, dass er die Decke fester um sie wickelte, wachte sie kurz noch einmal auf, dann lächelte ihre Mutter auf sie herab. Anna. Zum ersten Mal seit ihrer Flucht aus dem Hotel am Freitagvormittag konnte sie wieder richtig schlafen.
    Es war Abend, und vom Fluss stieg Dunst auf, der wie ein weißer Heiligenschein die Straßenlaternen umgab und sich mit dem milchigen Atem der Leute vermischte, die durch die Straßen eilten. Gruppen von Mädchen gingen an diesem Winterabend mit winzigen Röckchen, knappen Oberteilen, viel nackter Haut und sommerlichen Kleidern in der eisigen Luft auf und ab. Der Priester wartete im hinteren Teil der Kirche. Zwei Betende knieten in den Kirchenbänken und waren in den dunklen Schatten kaum zu erkennen. Es dämmerte bereits, und die Farben hoch oben in dem Gewölbe wurden grau, als die Nacht hereinbrach.
    Morgen war heilige Messe. Seit seiner Ordination hatte er jeden Tag die Messe gelesen und seit seiner Kindheit jeden Tag daran teilgenommen. Er konnte sich an keine Zeit erinnern, in der sie nicht ein wichtiger Teil seines Lebens gewesen war, und die Worte seiner Kindheit kamen zurück, wie das eben so war, wenn Menschen älter wurden. Manchmal schienen sie leichter als die Worte, die er heute sprach. Et introibo ad altare Dei. Ad Deum qui laetificat juventutem meam . Die lateinische Messe: Dort darf ich zum Altare Gottes treten. Zu Gott, der mich erfreut von Jugend auf.
    Die bunten Glasfenster waren dunkel und geheimnisvoll, die Steinwände und Säulen des Kirchenschiffs strebten hoch hinauf in den dämmrigen Schatten. Das ewige Licht glühte rot über dem Altar, und dahinter auf dem Tabernakel fiel ein schwacher Schimmer auf ein Kreuz, und das Kerzenlicht glänzte auf der Gestalt am Kreuz, den lang gestreckten Gliedern und dem geneigten Haupt. »Ich bin ausgeschüttet wie Wasser …«
    Confíteor Deo omnipotenti, beatae Mariae semper Virgini  … Ich bekenne Gott dem Allmächtigen und der heiligen, allzeit reinen Jungfrau Maria … Der Schatten des Lettners fiel auf den Mittelgang, das Kruzifix hing schwer am Querbalken, der Blick der beiden betenden Gestalten war voll demütiger Hingabe. Hinter dem Lettner erhob sich dunkel der Hochaltar. Als Kind hatte er dem Priester zugesehen, wie er, den Rücken zur Gemeinde gewandt, den Kelch mit dem heiligen Blut des Herrn hob, und dann dreimal die Altarglocke erklang. Die heilige Wandlung, die Umformung von Brot und Wein in Leib und Blut, der Augenblick des Opfers.
    Er schaltete die Lichter aus und verließ die dunkle Kirche. Gerade wollte er die Türen hinter sich zuziehen, als er ein Licht im Dunkel sah. Er hielt inne und ging den Mittelgang hinunter auf die Stelle zu, wo der Seitengang auf das Querschiff traf. Wer immer diese Kerzen anzündete, war heute Abend hier gewesen. Sie waren erst halb heruntergebrannt, ein schwaches, aber stetes Leuchten in der leeren Kirche. Die blinden Augen des Heiligen starrten geradeaus. Der Priester sah sich um. Die Bankreihen verloren sich neben den Säulen, die Gänge waren dunkel und still. Er überlegte, welcher der Betenden, die heute Abend zur Kirche gekommen waren, wohl die Kerzen angezündet hatte. Und er fragte sich, welche Hilfe dieses kleine Licht in der Dunkelheit wohl bringen mochte.

8
    Dienstagvormittag
    Roz hatte Kopfschmerzen. Sie war abrupt aufgewacht und einen Augenblick verwirrt. Dann erinnerte sie sich an den Abend und dass sie Luke am Tisch gegenübergesessen und sich mit ihm unterhalten hatte,

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