Nachtengel
während der Spiegel an der Wand das matte Licht reflektierte. Es war wie früher gewesen. Sie erinnerte sich, dass sie Whisky nachgegossen und eine CD aufgelegt hatte und später im Zimmer herumgetanzt war und die Wände an ihr vorbeischwebten. Sie hatte haltlos über einen Versprecher gekichert, weil sie irgendetwas Albernes über Messer gesagt hatte, für das sie sich so begeisterte, dass sie in den Stuhl zurückfiel, so toll fand sie es. Kurzum, sie hatte sich betrunken. Und jetzt hatte sie Kopfweh.
In der Nacht hatte es aufgeklart, die erste Januarsonne schien durch einen Spalt im Vorhang herein und blendete sie. Sie lag auf ihrem Bett, die Steppdecke war weggerutscht. Sie war in ihren Morgenmantel eingewickelt und wusste noch vage, dass sie geduscht hatte. Und sie konnte sich dunkel erinnern, dass jemand sie auf dem Flur gestützt und sie sich wortreich mit der absoluten Ichbezogenheit der Betrunkenen in Überlegungen zu ihrer Situation und ihrer Zukunft ergangen hatte. Ihr war kalt. Sie versuchte, die Decke wieder hochzuziehen, aber etwas Schweres hielt sie fest. Sie machte die Augen auf und drehte sehr langsam den Kopf. Luke lag neben ihr auf der Steppdecke. Er sah seltsam verwundbar aus, wie er da so lag, mit dem Gesicht auf der Hand und die andere in ihren wirr auf dem Kissen ausgebreiteten Haaren.
Sie befreite sich vorsichtig, um ihn nicht zu stören. Seine Hand war eiskalt. Er trug immer noch die nasse Jeans und das T-Shirt vom Abend vorher. Seine Schuhe und die Jacke lagen auf dem Boden. Sie setzte sich auf und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf.
Dann hörte sie es wieder und wusste, was sie aufgeweckt hatte. Ein Klopfen an der Tür. Ihr wurde klar, was sie schon beim Aufwachen gehört hatte. Es klang laut und dringend. »Schon gut, schon gut!« Luke bewegte sich, als sie sich aus dem Bett rollte, ihre Hausschuhe anzog und taumelnd aufstand. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Wahrscheinlich hatte sie jemanden zugeparkt. Am Abend zuvor hatte sie den Wagen auf der Straße abgestellt, denn jemand hatte ihre Einfahrt halb versperrt, und sie hatte keine Lust gehabt, um den Wagen herumzumanövrieren. »Komme schon«, rief sie.
Sie musste nach ihren Schlüsseln suchen, dann blieb der Riegel stecken, aber schließlich bekam sie die Tür auf. Ihr Haus stand etwas höher als die Straße. Die Stufen führten zum Weg hinunter, an beiden Seiten von einem Steinlöwen bewacht. Zuerst sah sie das Polizeiauto, dann erst verwundert blinzelnd die beiden Männer auf der Schwelle. Einer der Männer hielt ihr etwas entgegen. »DS Anderson«, sagte er. »Von der Polizei in Hull. Sind Sie Mrs. Rosalind Bishop?«
»Doktor Bishop«, sagte sie automatisch. Sie war benommen und begriff nichts. Hull?
»Mrs. Bishop, Dr. Bishop, ich suche Luke Hagan …«
»Luke …?« Sie merkte, dass er an ihr vorbeisah, und drehte sich um. Luke kam die Treppe herunter, machte seinen Gürtel zu und sah auch nur halb wach aus wie sie noch vor einem Augenblick.
»Roz«, begann er, »haben …« Dann sah er die Männer auf der Schwelle.
»Luke Hagan?« Der Mann stellte sich als Detective Sergeant Anderson vor und trat näher. Luke starrte ihn verdutzt an und nickte. Anderson sagte zu Roz: »Dürfen wir reinkommen?« Es war keine Frage. Roz trat zurück, und die beiden Männer betraten den Flur. »Mr. Hagan, DS Anderson, Polizei Hull.« Er zeigte Luke seinen Ausweis. Luke warf nur einen flüchtigen Blick darauf. »Ich fürchte, dass ich Ihnen eine schlechte Nachricht überbringen muss.« Er hielt einen Moment inne, um zu sehen, wie Luke reagierte.
Luke schaute ihn an; er war blass. »Gemma«, sagte er.
Anderson nickte. »Sie ist in Hull gefunden worden. Keine gute Nachricht«, wiederholte er. Roz ging auf Luke zu, ihr Atem stockte. Sie wollte nicht, dass der Mann weitersprach. »Es tut mir Leid, Ihnen sagen zu müssen, dass Gemma Wishart tot ist.« Seine Stimme war tonlos und offiziell. Er beobachtete Luke genau.
Roz konnte sich nur auf den Augenblick konzentrieren. Sie sah, wie Luke das Geländer umklammerte und auf die Stufen hinuntersank, wo er sich mit gesenktem Kopf hinsetzte. Sie kauerte sich neben ihn und hielt seine immer noch eiskalte Hand. »Luke«, sagte sie. Als sie sich an ihr feuchtfröhliches Selbstmitleid vom Abend zuvor erinnerte, schämte sie sich. Luke musste dieses Ende vorausgesehen haben, er machte den Eindruck eines Menschen, der etwas hörte, was er wusste, aber nicht glauben wollte. Sie sah
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