Nachtengel
und sie bemerkte denselben Ausdruck der Verwirrung auf seinem Gesicht. Sie wandte den Kopf und sah, wie die Schwester auf sie zueilte. Seine Augen wanderten wieder zum Fenster, und er sah stirnrunzelnd hinaus. Dann schaute er sich ratlos und verloren im Raum um. Als sein Blick auf Roz traf, breitete sich wieder die gleiche Überraschung und Erleichterung auf seinem Gesicht aus. »Roz! Du bist wieder da! Es ist eine Ewigkeit her …«
Die Kaffeetasse fiel ihr aus der Hand, und die heiße Flüssigkeit floss über ihr Kleid.
»Es ist das Korsakow-Syndrom«, erklärte Roz. »Gedächtnisverlust.« Luke setzte an, etwas zu sagen, und sie fuhr schnell fort: »Ich meine nicht, dass er sich nicht erinnern kann, wer er ist oder so etwas. Ich meine, er hat sein Gedächtnis verloren. Es ist, als hätte sein Leben in den letzten zwei Minuten angefangen und aufgehört. Die ganze Welt stürzt andauernd hinter ihm ins Nichts. Es ist wie …« Sie sah das Unverständnis auf Lukes Gesicht und versuchte, das zu erklären, was sie gesehen, aber selbst kaum hatte fassen können.
Sie erinnerte sich, wie sie zuerst nicht begriff, was man ihr sagte. Für kurze Zeit hatte sie Nathan mit nach Hause genommen und erlebt, wie er in abgrundtiefe Panik verfiel, ein Abgrund, der sich immer wieder neu auftat, wobei er wie eine Litanei wiederholte: »Ich bin krank gewesen, Roz, es ist so lange her …« Er hatte den Faden verloren, der ihn mit der Welt verband, hatte die Geschichte vergessen, die ihn, Nathan, ausmachte. In diesen Tagen hatte es noch Hoffnung gegeben. »Es gibt eine echte Chance, dass es sich bessern wird«, hatte ihr der Neurologe gesagt. Aber Nathan war einer derjenigen, die kein Glück hatten. Er hatte eine Serie von Anfällen, die einen immer größeren Teil seiner Vergangenheit aus seinem Gedächtnis auslöschten. Innerhalb weniger Wochen waren ihm ihre Ehe, ihre Beziehung, sogar ihre Freundschaft abhanden gekommen. Seine Erinnerung hörte etwa ein Jahr vor der Zeit auf, als sie sich kennen lernten.
Der Himmel hatte sich bewölkt, und der Spiegel warf kein Licht mehr zurück. Sie war nur eine Silhouette in der Dunkelheit. »Ich klammere mich an meine Ehe, weil es das einzig Hilfreiche ist, was ich tun kann. Aber eigentlich gibt es überhaupt nichts Hilfreiches. Ich tue einfach –«
Lukes Umriss verdeckte den Spiegel, als er aufstand – »Buße«, sagte er.
»Vielleicht.« Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, und sie konnte ihn schemenhaft vor sich an den Tisch gelehnt sehen, die Hände in die Taschen gesteckt. »Vielleicht brauche ich das.«
Er legte einen Moment die Arme um sie und strich ihr über den Hinterkopf. »Komm mir nicht mit Buße, Bishop«, sagte er. »Ich bin Ire und Katholik. Jedenfalls war ich früher katholisch«, verbesserte er sich. »Buße und Schuld. Damit kenne ich mich aus.« Er ließ sie los, griff in die Tasche seiner durchnässten Jacke und brachte eine Flasche Whisky zum Vorschein. »Hier ist noch ein gutes katholisches Heilmittel«, sagte er.
Hull, Montagabend
Es regnete. Ein feiner, dichter Nieselregen machte den Boden glatt und brachte zu der Kälte auch noch unangenehme Feuchtigkeit. Wind kam auf, der den Menschen den Regen ins Gesicht trieb und den Abend für alle, die im Freien waren, unbehaglich machte. Wenn man die Wahl hatte, kauerte man sich während des Wartens im Verkehr in seinem Auto zusammen und sah den hin- und herfegenden Scheibenwischern zu, oder man beeilte sich, die Haustür hinter sich zu schließen und sich vor der unwirtlichen Nacht zu schützen.
Anna war es egal, ob jemand sie sah, auch der Regen, der sie bis auf die Haut durchnässt hatte, war ihr gleichgültig. Sie wollte nur den einen Menschen finden, dem sie vertrauen konnte. Als sie aus dem Mansardenzimmer stürzte, war sie gefallen und weggelaufen, bevor sie den stechenden Schmerz im Rücken bemerkte. Sie war gerannt, hörte Tritte auf den Eisenstufen der Feuerleiter knirschen und dann auf dem Gehweg hinter ihr herkommen. Als sie das Ende der Straße erreichte, rief ihr eine Stimme etwas nach. Sie bog um die Ecke, und sofort kam ein Taxi vorbei, so als wache ihre Mutter immer noch über sie. Sie winkte es heran und ließ sich auf den Sitz fallen, nannte dem Fahrer ein Ziel in der Nähe des Hafens und kauerte sich auf dem Sitz zusammen, bis sie wieder zu Atem kam. Beim Luftholen stach es im Rücken, und im Knöchel spürte sie einen dumpfen Schmerz, der von dem unglücklichen Fall
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