Nachtengel
herrührte.
Sie war das Risiko eingegangen und hatte doch nichts vorzuzeigen. Ihre Papiere waren weg. Die Tüten, die sie gepackt hatte, waren bei der panischen Flucht zurückgeblieben. Sie brauchte einen sicheren Ort, wo sie schlafen konnte – auch wenn es nur für eine Nacht war – und wo sie wusste, dass sich jemand um sie kümmerte. Sie wollte ihn nicht in Gefahr bringen, sie wollte nicht, dass er ein Risiko einging, aber sie hatte jetzt keine andere Möglichkeit mehr. Nur die Beratungsstelle. Es war vor fünf Monaten gewesen, vielleicht länger, dass sie dort gewesen war, aber sie konnte sich noch an Matthews Güte und die Traurigkeit in seinem Blick erinnern.
Das Taxi bremste vor einer roten Ampel. Sie sah das Gesicht des Fahrers im Rückspiegel. Er schaute sie misstrauisch an. Sie waren noch ein ganzes Stück vom Zentrum entfernt, hatten aber ihren Verfolger abgeschüttelt. Sie rutschte auf dem Sitz zur Seite, und als der Fahrer langsamer fuhr, weil er an der Ampel halten musste, machte sie die Tür auf und war schon draußen, bevor er merkte, was sie vorhatte. Der Schmerz in ihrem Knöchel hätte sie fast davon abgehalten, aber sie zwang sich, in die erste dunkle Straße zu laufen, und war sicher, dass die kleine Summe, die sie ihm schuldete, eine Verfolgung nicht wert sei. In seinen Augen war sie nur eine Diebin, eine Pennerin, eine von denen, die aufs Schnorren aus sind. Sie fing an zu hinken, ihr Sprunggelenk war angeschwollen.
Es war schon nach zehn, als sie die Beratungsstelle erreichte. Die Bretter vor dem Fenster hatten Ritzen, und durch einen kleinen Spalt fiel Licht heraus, aber sonst sah der alte Laden verlassen aus. Das Blatt Papier hing immer noch an der Tür und steckte zum Schutz vor Feuchtigkeit in einer Plastikhülle. Beratungsstelle, Täglich 8.30 – 17.30. Außerhalb der Öffnungszeiten hier läuten.
Sie hatte gehofft, dass er da sein würde. Sie kannte die Frau nicht, die ihr öffnete und zu Anna etwas in einer Sprache sagte, die sie nicht verstand und die hart und aggressiv klang. Die Gesten, mit denen sie Anna durch die Tür in das kleine Büro führte, schienen ihr schroff und ungeduldig, aber die Frau hatte ein gütiges Gesicht und brachte Anna etwas Heißes zu trinken, süßen Tee mit heißer Milch.
Der Tee war stark und tröstlich. Die Frau deutete auf sich selbst und sagte: »Nasim.« Anna lächelte zaghaft und sagte ihren Namen. Die Hitze des Öfchens erwärmte sie, und ihre Augen wurden müde und schwer. Sie kroch durchs Gebüsch und hörte Wasser tropfen und tropfen. In der Luft lag der Geruch von Verbranntem …
Nasim machte eine missbilligende Bemerkung und griff nach der Tasse, die drohte, auf Annas Schoß umzukippen. Sie gab sie ihr wieder zurück und drückte sie einen Moment fest in ihre Hand. Dann machte sie Anna durch lebhafte Gesten klar, sie solle trinken. Anna lächelte schwach und setzte die Tasse von neuem an. Sie hörte Schritte, und die Tür hinter dem Tisch ging auf. Sie erstarrte, aber als sie den Mann sah, der langsam in den Raum kam, entspannte sie sich und wurde zum ersten Mal seit Freitagvormittag ganz ruhig. Er lächelte entschuldigend und blieb stehen, sah dann Anna genauer an, kam um den Tisch herum und begrüßte sie, wirkte aber besorgt. Einen Augenblick bewegte er tonlos die Lippen, dann sagte er: »Anna.« Sie hatte nicht zu hoffen gewagt, dass er noch hier sein würde. Sie merkte, dass Nasim gespannt zusah und etwas sagen wollte.
»Matthew.« Anna lächelte und sah, dass er Nasim winkte, sie solle gehen. Er setzte sich auf einen Stuhl neben sie, kam ihr aber nicht zu nah. Seine Bewegungen waren unbeholfen, durch eine leichte Rückgratverkrümmung stand eine Schulter höher als die andere. »Von Geburt an«, hatte er mit einem Schulterzucken gesagt, als Anna gefragt hatte. Sie dachte an Krischa und den speziell angefertigten Schuh, den sie an ihrem verkrümmten Fuß tragen musste. Auch Krischa war mit einem Makel auf die Welt gekommen. Ganz kurz sah sie das Bündel vor sich auf dem Boden liegen, und einen kleinen Schuh auf die Büsche zeigen. Sie zitterte, und er sah sie besorgt an.
Zuerst hatte er etwas Mühe, es herauszubringen, dann sagte er: »Was ist passiert?« Er sah älter aus. Seine Haare waren grauer, und seine Augen schienen müde. Sie streckte die Hand aus, und er nahm sie. Sie saßen zusammen in dem kalten, dunklen Raum, wo es nach Butangas roch. Sie wusste, dass er warten würde, bis sie zu sprechen bereit war. Die Augen
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