Nachtengel
der Joanna gegenüberstand. »Keinen Kaffee, danke«, sagte sie. Sie erzählte Joanna von dem morgendlichen Besuch und dass Luke der Polizei bei ihrer Ermittlung helfe. Während sie sprach, hörte sie, wie alles einen erschreckend logischen Zusammenhang bekam. Joanna hatte sich Sorgen gemacht, eine Frau beschäftigt zu haben, die sich mit allen vertraulichen Unterlagen der Gruppe und mit Material über möglicherweise wertvolle, noch in der Entwicklung befindliche Software davongemacht hatte. Jetzt musste sie wohl auch noch befürchten, dass der Mann, der sie umgebracht hatte, bei ihr angestellt war.
Als Roz zu Ende gesprochen hatte, saß Joanna einen Moment schweigend da. »Ich kann nicht glauben, dass ich Gemma zum letzten Mal gesehen haben soll, als ich mit ihr über die Konferenz sprach. Es gab so viel … die ganze Welt.« Sie fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken und holte mehrmals tief Luft. Einen Augenblick sah sie verwirrt aus, dann fiel ihr Blick auf die Papiere auf dem Schreibtisch vor ihr. »Vielleicht sollten wir uns das hier ansehen«, sagte sie ungewöhnlich behutsam. »Die neue Runde der Bewerbungen für Zuschüsse …«
Roz erinnerte sich daran, was sie zu Luke gesagt hatte: »Sie schafft es, sich um die Finanzierung und alles andere zu kümmern, aber sie kann sich nicht auch noch um Menschen sorgen.«
»Luke ist nicht verhaftet worden«, sagte Roz.
Joanna stand auf. »Ich weiß«, erwiderte sie, »aber seit Freitag war irgendetwas mit Luke los – und sag bloß nicht, ich behauptete das jetzt hinterher«, fügte sie hinzu. Roz wollte etwas sagen, hielt aber inne. Joanna war eine gute Menschenkennerin und urteilte schnell und überlegt. Und sie hatte Recht. Etwas hatte mit Luke nicht gestimmt. Joannas Bürotür war nicht richtig zu und ging auf, als ein Mann vorbeikam, der Gemmas Computer wegtrug. Roz sah Joanna an und bemerkte, dass ihre Augen vor Ärger funkelten.
»Ich weiß, dass sie Luke mitgenommen haben, um ihn zu vernehmen, Joanna«, sagte sie. »Aber das war doch klar. Er ist Gemmas Freund.« Es fiel ihr schwer, das zu sagen. »Er war es doch selbst, der gemeldet hat, dass sie vermisst wird. Sie müssen ihn vernehmen.« Während sie sprach, merkte Roz, dass sie sich ein wenig entspannte. Natürlich mussten sie Luke befragen. Wie konnte es anders sein?
Joannas Gesichtsausdruck blieb noch einen Augenblick angespannt, dann beruhigte sie sich. »Ich weiß«, räumte sie ein und schloss die Augen. »Ich brauche … einfach etwas zu tun. Ich kann nicht darüber nachdenken, jedenfalls nicht jetzt. Hier ist keine gute Atmosphäre zum Arbeiten. Sie taugt zu überhaupt nichts. Ich arbeite heute zu Hause. Wenn ich du wäre, würde ich das auch tun, Roz.«
Roz brauchte nicht zu überlegen. »Nein, ich bleibe. Hier kann ich ein Auge auf alles haben.«
Joanna schien erleichtert. »Danke«, sagte sie, und der Ausdruck echter Dankbarkeit erinnerte Roz an die Frau, die ihr damals freundschaftliche Unterstützung angeboten hatte, als sie sich um die Versetzung nach Sheffield beworben hatte. Roz griff nach den Bewerbungsformularen und sagte: »Ich fange damit schon mal an.«
Aber als sie in ihr Büro zurückkam, setzte sie sich hin und starrte aus dem Fenster, auf den grauen Winterhimmel und den Regen, der ans Fenster spritzte. Die Polizei musste glauben, dass Luke Gemma umgebracht hatte. Oder dass diese Möglichkeit bestand. Sie wollte sich nicht damit befassen und musste sich doch zwingen, darüber nachzudenken. Sie erinnerte sich an den Luke, den sie gekannt hatte, bevor Gemma in ihr Leben trat. Seine treffsichere Ironie war ein guter Kontrast zu ihrer ernsten Art. Er hatte sie davor bewahrt, sich in den ersten Monaten als Forschungsassistentin völlig zu verausgaben, und brachte sie dazu, Prioritäten zu setzen und unvernünftige Ansprüche ihrer Studenten abzuweisen. »Sie wollen sehen, wie weit sie gehen können, Bishop. Sie wissen, dass du nur einen Zeitvertrag hast. Pass auf, diese Abteilung braucht eine Wissenschaftlerin, keine Lehrkraft. Konzentriere dich auf das Wichtige.«
Er hatte ihr beigebracht, wie sie wieder Spaß haben konnte. Genauso wie sie neigte er zu Depressionen und Zeiten düsterer Grübelei. Sie konnten sich gegenseitig gut mit kämpferischen Squash-Spielen, mit Tanzabenden in anrüchigen Clubs und wilden Motorradfahrten auf der Autobahn aus diesen depressiven Phasen heraushelfen. Und er hatte sie nie über Nathan ausgefragt, hatte Roz' kurze
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