Nachtengel
Interessanteres schließen als einfach ein Fahrzeug, das jemand nach einer Spritztour stehen ließ. Und die Spritztour-Klientel fuhr sowieso lieber in der Stadt herum.
Police Constable Lee Taylor hielt am Straßenrand und besah sich das Fahrzeug. Es war tief in den Graben gefahren worden und konnte von der Straße aus kaum bemerkt werden. Auffällig war, dass sich jemand solche Mühe gegeben hatte, den Wagen so gut zu verstecken, dass er beim flüchtigen Hinsehen unbemerkt blieb. Auf der Liste von Fahrzeugen, die in letzter Zeit zu Verbrechen genutzt wurden, stand kein roter Fiesta, aber er zögerte, die Sache mit dieser Begründung auf sich beruhen zu lassen. Ein Wanderer hatte den Wagen am späten Sonntagabend gemeldet. Es sah nicht so aus, als sei jemand seit damals an oder in dem Fahrzeug gewesen. In der Nacht hatte es geregnet, aber der Boden unter dem Wagen war trocken. Er ging auf die andere Seite und bemerkte die Flecken und Spritzer an der Türschwelle, wo der Felsvorsprung den Regen abgehalten hatte.
Er ging in einem gewissen Abstand um das Auto herum und sah durch die Fenster hinein. Es stand an einer dunklen Stelle unter dem Felsen, und er leuchtete mit seiner Taschenlampe durch die Windschutzscheibe hinein, um den Innenraum besser zu sehen. Er war leer. Er tadelte sich selbst für die unnötige Aufregung und fragte sich, warum er trotzdem nicht zufrieden war. Er betrachtete auf der anderen Seite noch einmal die Flecken an der Türschwelle. Ihm schien, dass der Fahrer nicht auf dieser Seite ausgestiegen sein konnte, denn die Tür war zu nah am Felsen. Und trotzdem sah es aus, als seien die Spritzer bei offener Tür auf die Türschwelle geraten. Er leuchtete noch einmal durch die Windschutzscheibe, und diesmal glaubte er, dunkle Flecken auf dem Sitz zu sehen.
Vielleicht war in diesem Auto jemand verletzt worden. Er sah sich in der einsamen Landschaft um, ein ungünstiger Ort für einen Verwundeten, der Hilfe brauchte. Die wenigen Autos, die auf der Straße vorbeikamen, waren kaum zu sehen. Hinter ihm stiegen die Berge an, massive Blöcke aus grobem Sandstein, deren Kanten von dem spärlichen, dünnen Gras auf den höheren dunklen Gipfeln nur leicht verdeckt wurden. Der Wind frischte auf und war so eisig, als käme er direkt aus Sibirien, und der Himmel war unheilvoll und dunkel. Er sah über das Tal zum Kinder Scout und zurück nach Bleaklow. Wer wusste, was die Torfmoore und das Heideland verbargen? Im Sommer kamen Tausende Touristen, um die Schönheit dieser Berge und der Moorlandschaft zu bewundern, zu wandern und mit Autos, Picknick-Ausrüstung und mobilen Eisständen die Zivilisation in diese wilde Landschaft zu tragen. Aber Taylor glaubte, dass die Berge jetzt, ohne ihr Publikum und den Sommerschmuck, ihr wahres, düsteres und drohendes Gesicht zeigten.
Sheffield, Mittwochvormittag
Roz ging den Flur entlang zu Joannas Büro und versuchte, so zu tun, als hätte sie den Morgen mit nützlicher Arbeit verbracht. Sie hatte zwei Stunden am Schreibtisch gesessen und sich bemüht, sich auf den nächsten Abschnitt des Forschungsprogramms, an dem sie arbeitete, zu konzentrieren. Aber sie musste die ganze Zeit an Luke denken. In den Nachrichten war am Morgen gemeldet worden, die Polizei habe einen Mann freigelassen, der ›bei der Ermittlung geholfen habe‹, aber Luke war nicht zur Arbeit gekommen und hatte auch sein Telefon nicht abgenommen. Sein Anrufbeantworter war eingeschaltet und Roz hatte eine kurze Nachricht hinterlassen, aber er hatte sich nicht gemeldet.
Sie konnte nicht konzentriert arbeiten, sondern saß einfach nur ihre Zeit ab, und als Joanna sie zu sich rief, war das eine willkommene Abwechslung. Joanna saß an ihrem Schreibtisch und hatte Kalkulationsunterlagen, Tabellen und Arbeitspläne vor sich. »Wir müssen diese Vorschläge für die Projekte auf den Weg bringen«, begrüßte sie Roz. »Ich weiß«, konterte sie Roz' eventuelle Einwände, »es kommt einem gefühllos vor. Aber diese Dinge müssen erledigt werden.«
Roz nickte, blätterte in den Formularen, die Joanna ihr zugeschoben hatte, und sagte: »Hast du irgendwas gehört? Gibt es …«
Joanna unterbrach sie sofort. »Die Polizei kümmert sich darum. Ich glaube nicht, dass wir noch etwas tun können. Ich habe einen Brief an Gemmas Mutter geschickt.«
»Ich mache mir Sorgen um Luke«, sagte Roz.
»Das würde ich nicht tun«, erwiderte Joanna eisig. »Heute Früh schien es ihm gut zu gehen.«
Heute Früh! »Hat er sich denn
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