Nachtengel
sammelte seine Gedanken. »Er mochte das nicht. Tom Anderson hat dann mit ihm geredet – mit Anspielungen wie: ›nicht schlecht, wenn man so was mag‹ –, und man konnte sehen, dass ihn das fertig machte. Dann hat er abgeschaltet, und ich habe ihn nach ihrer Arbeit als Begleiterin gefragt. Ich dachte, er würde mir eine runterhauen.« Er grinste. »Wirklich schade, dass er's nicht getan hat. Dann hätte ich einen Grund gehabt, ihn weiter festzuhalten. Er gab zu, dass er die Fotos gemacht hat.«
Da sie inzwischen so nahe nebeneinander auf der Couch saßen, war es klar, dass sie beide an mehr als dem Fall interessiert waren. Aber das Gespräch hatte unwiderruflich die Stimmung verändert. Lynne schob die Akten von sich, stand auf und streckte sich. Er sah auf die Uhr. »Wahrscheinlich Zeit, dass ich gehe.«
An der Wohnungstür blieb er stehen, lehnte sich mit der Schulter gegen den Rahmen und sah auf sie hinab. Sie mochte sein Gesicht, das unauffällig, aber wenn er lächelte, sehr anziehend war. Sie mochte seine Art, sich entspannt und zugleich kompetent zu geben. »Zu viel von der Arbeit geredet«, sagte er und küsste sie leicht auf den Mund. »Ein andermal?«
»Ein andermal«, sagte sie und meinte es ehrlich.
Es war spät, aber es ging ihr zu viel durch den Kopf, um schlafen zu können. Roy Farnham hielt es für wahrscheinlich, dass Hagan Gemma Wishart getötet hatte. Lynne glaubte, dass er vermutlich Recht hatte. Wenn man den Fall näher betrachtete, klärten sich die komplexen Zusammenhänge. Wisharts E-Mail und der Brief waren ungeschickte Fälschungen, die E-Mail war von einem Internet-Café in der Nähe der Universität aus geschickt worden, wo Hagan arbeitete. Die Daten auf beiden Computern, die sie benutzte, waren gelöscht worden. In einem Fall hieß das, dass nur die Dateien entfernt wurden, aber auf dem anderen Rechner war einfach alles komplett gelöscht worden. Dies konnte ein Hinweis darauf sein, dass ihr Tod etwas mit ihrer Arbeit zu tun hatte, aber auch Hagan konnte problemlos die Daten vernichtet haben. Er hatte für Donnerstagabend kein Alibi. Er sagte, er sei bis spät in die Nacht im Institut gewesen und habe sich darum gekümmert, alles für den nächsten Tag fertig zu bekommen. Er war kurz zu Hause gewesen, um zu sehen, ob Wishart ihm eine Nachricht hinterlassen hatte, dann aber auf seinem Motorrad weggefahren.
Allerdings … Es war, als betrachte man eines dieser Bilder, die in einem Augenblick eine elegante Frau und im nächsten ein altes Weib darstellen konnten, aber nie beide zugleich. Gemma Wishart hatte Material bearbeitet, das mit Katjas Tod zu tun hatte. Und dann war sie selbst auf ähnliche, aber nicht die gleiche Weise gestorben, sagte sich Lynne. In gewisser Hinsicht gab es oberflächliche Ähnlichkeiten. Wenn Hagan der Mörder war, hatte er auf sehr unbeholfene Art und Weise versucht, den Mord zu verschleiern. Er hatte eine E-Mail geschickt, um zu beschwichtigen oder die Sache hinauszuschieben. Er hatte einen Brief geschickt in der Hoffnung, dass danach nicht mehr nach Gemma gesucht würde. Und dabei war er Mitarbeiter einer Gruppe, die darauf spezialisiert war, Fälschungen und betrügerische Dokumente zu erkennen. Er hatte sie als vermisst gemeldet, um der Polizei zu zeigen, wie besorgt er war. Er hatte alle Daten von ihrem Computer gelöscht, damit die ganze Sache so aussah, als habe sie etwas mit ihrer Arbeit zu tun, und er war voller Panik gewesen. Das waren keine Kennzeichen eines geplanten Mordes.
Andererseits hatte der Mörder auf sehr clevere Weise Spuren gelegt, die alles durcheinander brachten. Er hatte Wisharts Ermordung mit den ungeklärten Fällen der beiden Frauen verknüpft, deren Tod offiziell nicht als Mord galt und vielleicht auch nie so eingestuft werden würde. Wie hatte er von diesen Todesfällen erfahren können? Die Erwähnungen in der Presse waren sehr sparsam gewesen. Er hatte die tote Gemma Wishart in ein Hotelzimmer in Hull gebracht und sie in die Badewanne gelegt. Und wenn dieser Mörder Hagan war, hätte er das verstümmelte Gesicht der Frau, mit der er geschlafen hatte und die er mochte, die ganze Zeit als stummen Vorwurf vor Augen gehabt. Es war die Tat eines Psychopathen.
9
Snake Pass, Mittwoch
Am Sonntag war gemeldet worden, jemand habe anscheinend das Auto stehen lassen. Ein Streifenwagen wurde hingeschickt, um kurz zu überprüfen, ob es schon irgendwo als gestohlen gemeldet war. Die fehlenden Nummernschilder ließen auf etwas
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