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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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tief auf, wendete und flog zurück, um wieder auf dem Ast zu landen.
    Den Blick auf seine Krallen gesenkt, ging er zwischen den verstummten Chiroptern auf seinen Vater zu.
    »Wie lange kannst du das schon?«, hörte er seinen Vater fragen.
    »Gestern habe ich es herausgefunden.«
    Er wusste nicht genau, wie er bestraft werden würde, doch er konnte sich vorstellen, dass die Strafe sehr streng ausfallen könnte. Du bist kein Vogel. Du flatterst nicht. Chiropter gleiten, sie fliegen nicht. Ob sie ihn ausstoßen würden?
    »Es tut mir leid«, murmelte er.
    »Ich finde das sehr außergewöhnlich«, sagte sein Vater.
    Ungläubig blickte Dämmer zu ihm auf und sah, dass sein Gesicht weder Ärger noch Missbilligung zeigte, sondern einfach nur Erstaunen. Die anderen Chiropter waren plötzlich ganz still geworden und beobachteten ihren Anführer gespannt.
    »Findest du?«, fragte Dämmer.
    »Ehrlich?« Sylph war völlig fassungslos.
    »Breite deine Segel aus«, sagte Ikaron zu Dämmer. »Lass mich dich mal ansehen.«
    Dämmer tat, was ihm gesagt worden war. Sein Vater kam näher und betrachtete schweigend die Unterseite von Dämmers Segeln.
    »Wenn du flatterst«, fragte Ikaron, »woher kommt dann die Kraft?«
    »Aus den Schultern und aus der Brust, denke ich.«
    Ikaron nickte. »Ja, ich sehe es. Das ist hier. Deine Brust ist breiter und stärker als normal. Deine Schultern auch. Die waren schon immer so. Seit deiner Geburt. Man braucht eine Menge Muskeln, um mit seinen Segeln so schnell zu flattern, wie du es tust.«
    Dämmer konnte nicht anders, er musste immer wieder zwischen Sylph und Jib hin- und herblicken. Stärker als normal. Eine Menge Muskeln.
    »Er kann doch nicht der Einzige sein, der so was kann«, sagte Jib vorlaut.
    »Versuch es doch«, schlug ihm Ikaron vor. »Ich habe noch nie von einem anderen Chiropter gehört, der fliegen kann. Ich glaube nicht, dass die Kraft unserer Muskeln ausreicht.«
    »Es muss noch andere geben«, sagte Dämmer zu seinem Vater.
    »Ich glaube nicht, Dämmer.« Ikaron schüttelte den Kopf und betrachtete wieder die Segel seines Sohns. »Es ist wirklich bemerkenswert. Als du bei deinem ersten Gleiten geflattert hast, hatte ich ja noch keine Ahnung, überhaupt keine Ahnung …«
    »Es ist so ungerecht!«, seufzte Sylph und kletterte den Baum hinauf.
    Die anderen Chiropter fingen nun auch an, sich zu zerstreuen, machten mit der Jagd weiter oder putzten sich geschäftig.
    Dämmer fing ein paar vorsichtige Blicke auf und hörte einiges an Gemurmel, dass das alles nicht richtig wäre und überhaupt, wer wollte denn schon fliegen wie ein Vogel?
    »Es ist also in Ordnung, wenn ich fliege?«, fragte Dämmer.
    »Warum nicht«, sagte sein Vater. »Ich finde, das ist eine wunderbare Fähigkeit.«
    Dämmer hatte immer noch Schwierigkeiten damit, die Reaktion seines Vaters zu begreifen. Er schien ernsthaft begeistert zu sein, und das half Dämmer, sich von der zerstörerischen Angst zu befreien, die er empfunden hatte.
    »Pass aber auf, dass du unter dem Oberen Holm bleibst«, erklärte ihm Ikaron. »Die Vögel würden einen anderen Flieger in ihrem Gebiet bestimmt nicht willkommen heißen.«
    Den ganzen Morgen lang flog Dämmer durch die Lichtung, stieß herab und stieg vergnügt wieder auf. Ein berauschendes Gefühl von Freiheit erfüllte seinen neuen Körper.
    Überallhin. Er konnte überallhin fliegen.
    Er fing mehr Beute als je zuvor. Er war jetzt so viel beweglicher. Und das Beste von allem: Er musste nie mehr die erschöpfende Strecke den Baum zurück nach oben klettern. Mitleidig sah er zu den anderen Chiroptern hinunter, die sich den Stamm hochschleppten.
    Er merkte allerdings, dass er immer noch sehr schnell müde wurde. Zehn Minuten war die längste Zeit, die er in der Luft bleiben konnte, dann brauchte er eine ordentliche Pause. Doch seine Jagd war so viel ergiebiger, dass er trotzdem immer noch Zeit sparte. Mit mehr Übung, da war er sich sicher, würden seine Muskeln stärker und ausdauernder.
    Die Neuigkeit, dass er fliegen konnte, brauste schneller als ein Sturm durch die Kolonie. Immer wieder sah er Neugeborene, einschließlich Jib, die verzweifelt versuchten zu fliegen. Keiner von ihnen hatte auch nur im Geringsten mehr Erfolg als Sylph, und als ihre Eltern das sahen, wurden sie ärgerlich und befahlen ihnen, damit aufzuhören.
    Am Mittag, als die Sonne am hellsten schien und das Lied der Zikaden am lautesten schrillte, fand Dämmer Sylph im Nest, wo sie im Schatten ruhte. Er ließ

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