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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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derselbe Gedanke hatte ihn bereits bedrückt. Aber noch war er nicht bereit, irgendetwas einzugestehen.
    »Nur weil etwas ungewöhnlich oder neu ist, ist es doch nicht verkehrt«, beharrte er.
    »Da bin ich mir nicht so sicher«, erwiderte sie scharf und richtete ihre zornigen Augen auf ihn. »Ich weiß nur, dass Fliegen etwas ist, das die Vögel tun.«
    »Und Saurier mit Flügeln«, sagte er nachdrücklich.
    Plötzlich erinnerte er sich an den Traum aus der letzten Nacht. Ich gebe dir meine Flügel , hatte der tote Saurier zu ihm gesagt. Es war nur ein Traum gewesen, doch bei dem Gedanken daran fühlte er sich immer noch ein bisschen schlecht.
    »Chiropter sind zum Gleiten geboren«, sagte Sylph.
    »Ich weiß nicht so genau, ob das bei mir auch so ist«, sagte Dämmer. »Mit meinen Segeln ging das Gleiten nie so gut. Und ich habe immer flattern wollen. Immer.«
    Zum ersten Mal überhaupt hatte er das zugegeben, und das Geheimnis, das so lange in ihm eingeschlossen war, kam wie ein triumphierender Schrei heraus.
    »Wie ich schon gesagt habe, genau deshalb bist du eben anders. Das ist unnatürlich.« Sylph machte eine Pause, als überlegte sie, ob sie noch etwas sagen sollte. »Es ist, als ob du gar kein Chiropter wärst.«
    Dämmers Herz hämmerte. »Sag das nicht. Natürlich bin ich ein Chiropter!« In seiner Angst hätte er das fast herausgeschrien. Er wollte nicht so anders sein. Allein der Gedanke daran versetzte ihn in Schrecken.
    In diesem Augenblick wünschte er, er könnte alles ungeschehen machen. Wenn er bloß nicht auf dem Boden gelandet wäre.
    Wenn doch bloß dieser elende Vogel nicht dort rumgewühlt und ihn fast zu Tode erschreckt hätte. Wenn er doch nicht geflattert hätte.
    »Ist anders sein denn schlecht?«, fragte er Sylph.
    Sie grunzte. »Papa wird richtig wütend sein.«
    »Meinst du?«
    »Er ist der Anführer der Kolonie. Glaubst du, er will einen Sohn haben, der herumflattert wie ein Vogel?«
    Dämmer schluckte.
    »Und denke dran, was Mama gesagt hat. Benimm dich wie die Kolonie oder du wirst von der Kolonie gemieden.«
    »Du darfst niemandem davon erzählen«, sagte Dämmer drängend. »Versprich mir das, Sylph.«
    »Keine Sorge«, sagte sie freundlich. »Das verspreche ich. Ich bewahre dein Geheimnis.«
    Reißzahn streifte durch den Wald.
    Nach seinem ersten erbeuteten Tier hatte ihn Scham überkommen, die fast so überwältigend war wie der Schmerz, der in seinen Eingeweiden gewühlt hatte. Noch am Ufer des Flusses hatte er einen Teil dessen, was er gefressen hatte, wieder erbrechen müssen, und als er dann zur Meute zurückging, versprach er sich selbst, so etwas nie wieder zu tun. Patriofelis hatte recht. Es war barbarisch.
    Doch der Tag und noch einer vergingen und die Erinnerung an das warme Paramusfleisch ließ ihn nicht los. Sie schmeckte in seinem Mund nach und kitzelte seine Speicheldrüsen. Seine Zähne konnten die Verzückung beim Reißen des Fleisches nicht vergessen. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken und lieferten sich Schlachten, bis er völlig erschöpft war.
    Es war unnatürlich. Es war natürlich.
    Er würde es nie wieder tun. Er würde es wieder tun.
    Selbst im Schlaf wurde er von Jagdvisionen gequält, die im gleichen Maß Reue und Hochgefühle brachten.
    Nun senkte sich die Nacht über das Land und er war tief im Wald mit geweiteten Pupillen. Drei Worte hämmerten in seinem Kopf: Es muss sein.
    Die anderen Feliden waren weit weg, doch er wollte sicher sein, dass auch kein anderes Tier zusah.
    Er versperrte seinen Kopf gegen alle anderen Gedanken und Zweifel.
    Er knirschte mit den Zähnen, seine Nasenlöcher blähten sich.
    Da.
    Ein kleiner Grundling wühlte am Fuß eines Baums herum. Reißzahn schlich sich von hinten an. Das war kein er und keine sie, es war ein es. Das war weder Sohn noch Tochter, Vater oder Mutter. Es war einfach Beute. Es war da, um von ihm verschlungen zu werden.
    Ein Zweig knackte unter seiner Pfote, der Wühler blickte über die Schulter nach hinten und ihre Blicke trafen sich. Zuerst empfand der kauernde Wühler keine Gefahr. Es war normal, Feliden im Wald zu sehen, alle möglichen Tiere liefen sich hier friedlich über den Weg. Doch dann musste der Wühler bei Reißzahn etwas anderes als reine Gleichgültigkeit gespürt haben.
    Reißzahn sah, wie der Wühler sich anspannte, um zu fliehen.
    »Nein!«, quietschte das Tier.
    Reißzahn rannte los, dann sprang er. Es war ein abstoßender Kampf. Der Wühler wehrte sich mit aller Kraft, kratzte und

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