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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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in ihre Welt abgestürzt war. Doch viel mehr erregte ihn sein neues Selbst mit all seinen Möglichkeiten.
    »Ich hatte Angst, ich könnte ein Saurier sein«, gestand er verlegen.
    »Aber doch nicht im Ernst, Dämmer?«, fragte seine Mutter bestürzt.
    »Nur ein bisschen«, sagte er verlegen. »Meine Segel. Die sind wie die Saurierflügel. Ohne Haare. Und wir können beide fliegen.«
    »Ich habe zugesehen, wie du geboren worden bist«, sagte sein Vater liebevoll. »Und ich kann dir versichern, dass du nicht aus einem Ei geschlüpft bist.«
    »Bist du sicher, dass es keinen in unserer Familie gegeben hat, der mal geflogen ist?«, fragte Dämmer.
    »Du bist der Erste«, sagte ihm Mistral.
    »Aber vielleicht nicht der Letzte«, sagte Ikaron. »Wer kann schon sagen, ob nicht eines Tages alle Chiropter fliegen und bei Nacht sehen können? Vielleicht bist du ein Vorbote.«
    »Jetzt setz ihm mal keine Flausen in den Kopf«, schimpfte Mistral ihren Gefährten. »Fürs Erste sollte er sein Echosehen geheim halten.«
    »Sylph weiß es«, gestand Dämmer.
    »Aha, dann hoffen wir mal, dass sie es für sich behält. Um das Fliegen zu verschweigen, ist es eindeutig zu spät. Ich habe noch immer Sorge, dass die anderen dich deshalb meiden werden.«
    »Das werde ich nicht dulden«, sagte Ikaron mit fester Stimme. »Nicht weil ich der Anführer bin, sondern weil wir keine Angst davor haben sollten, dass einer von uns anders ist. Diese ganze Kolonie besteht nur deshalb, weil sich eine kleine Gruppe von uns getraut hat, anders zu sein. Vor zwanzig Jahren haben wir den Pakt gebrochen und haben uns nicht nur gegen unsere eigene Kolonie, sondern gegen das gesamte Bündnis der Tiere gestellt. Manchmal kann uns unser Anderssein auch stark machen und uns in eine bessere Zukunft führen.«
    Reißzahn kehrte mit hoch erhobenem Haupt zur Meute zurück. Er schämte sich nicht, er würde nicht wie irgendein in Ungnade gefallenes Tier angeschlichen kommen.
    Zwei Tage lang war er fortgeblieben, tief im Wald, unsicher darüber, was er tun sollte. Hatte Panthera sein Geheimnis preisgegeben? Tobte Patriofelis bereits? Er überlegte, ob er fliehen und sich neue Jagdgründe suchen sollte, doch das käme viel zu sehr einem Eingeständnis von Schuld gleich, einer Niederlage. Und er hatte nichts Unrechtes getan.
    Als er sich dem Giftholzbaum, dem Zentrum der Meute, näherte, hatte die Sonne fast ihren höchsten Stand erreicht. Träge lagen die Feliden nach ihrem Morgenmahl da und beobachteten ihn vom Boden aus und von den Ästen. Diesmal fehlte ihren Blicken der Kitzel der Bewunderung, und sie vermieden es, ihm in die Augen zu sehen. Er nahm den Geruch ihrer angespannten Abneigung auf.
    Sie wussten es.
    Sein Schritt stockte, als er Panthera entdeckte, die auf ihn zuging. Sein Herz schlug schneller. Sie hielt nicht an, um mit ihm zu sprechen, doch im Vorbeigehen flüsterte sie: »Ich hab ihnen nichts verraten. Andere haben dich gesehen und es Patriofelis berichtet. Ich möchte, dass du das weißt.«
    Sie ging weiter, ohne auch nur einmal zurückzublicken.
    Reißzahn war innerlich gerüstet, als er den Giftholzbaum erreichte und Patriofelis auf einem der unteren Äste ausgestreckt liegen sah. Als der Anführer Reißzahn erblickte, stand er auf, ließ sich aber nicht dazu herab, ihn zu grüßen.
    »Du kommst zu uns zurück«, sagte der Anführer der Feliden.
    »Ja.«
    »Und stimmt das, was wir gehört haben?«, wollte Patriofelis wissen.
    »Es stimmt«, bestätigte Reißzahn mit fester Stimme.
    »Du hast ein Mitgeschöpf getötet. Hast du keine Gewissensbisse?«
    »Wir töten die ganze Zeit. Maden und Insekten.«
    »Die sind unwichtig. Sie haben kein Gefühl.«
    »Sie zucken zusammen, wenn wir sie töten. Sie wollen auch leben. Wir respektieren das nur nicht.«
    Patriofelis schnaubte ungeduldig, völlig unbeeindruckt von Reißzahns Argumenten. »Du hast ein anderes Tier getötet. Das ist nicht der Lauf der Dinge!«
    »Die Saurier haben uns gefressen. Wir müssen andere fressen, wenn wir überleben wollen.«
    »Das hast du schon einmal gesagt.« Patriofelis ging auf seinem Ast im Giftholzbaum auf und ab. »Das würde die Ordnung unserer ganzen Welt zerstören. Wenn wir uns alle gegenseitig jagen würden, gäbe es mehr Blutvergießen als zu der Zeit, in der die Saurier uns als Beute jagten.«
    »So sollte es aber sein«, sagte Reißzahn.
    »Nein. Ich verbiete es.« Dann wurde die Stimme des Anführers für einen Augenblick sanfter. »Du warst ein beliebtes

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