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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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sollte er solche Angst davor haben, das zu sein, was er war?
    »Du wirst doch nicht irgendwelche Dummheiten machen?«, fragte Sylph besorgt, während sie neben ihm einherglitt.
    Wütend schwenkte er ab.
    Er versuchte, eine Sumpfmotte zu fangen, verfehlte sie aber.
    »Es läuft heute wohl nicht so gut, was, Haarloser?«
    Das kam von Jib, der über ihm segelte.
    Dämmer beachtete ihn gar nicht. Er sah eine Libelle, wendete zu scharf und seine Beute schoss über seinen Kopf hinweg.
    Jibs höhnische Bemerkungen prasselten wieder auf ihn ein.
    »Ich zeig dir mal, wie das geht, Haarloser«, sagte er und stürzte sich auf die Libelle.
    Dämmer hielt es nicht mehr aus. Seine Segel explodierten förmlich, er flatterte heftig, stieg auf und legte sich zugleich in die Kurve, und sein Jagdschnalzen führte ihn direkt zu der Libelle. Er schnappte sie aus der Luft, nur einen winzigen Augenblick vor Jib.
    »So«, schrie er, »macht man das!«
    Jib war so verblüfft, dass es nicht einmal für einen entrüsteten Schrei ausreichte. Er taumelte kurz durch die Luft, richtete sein Gleiten wieder aus und blickte ungläubig zu Dämmer hoch.
    Mit triumphierend klopfendem Herz landete Dämmer auf einem Ast. Noch nie hatte eine Libelle besser geschmeckt. Doch seine Freude war nur von kurzer Dauer. Ihm fiel auf, dass alle Chiropter in der Nähe, einige gleitend, andere auf den Ästen hockend, ihn anblickten. Sie starrten ihn an wie etwas Fremdes, das vom Himmel gefallen war. Sylph kam schnell und setzte sich neben ihn.
    »Was hast du da bloß gemacht?«, zischte sie. »Was ist denn jetzt mit dem Geheimhalten?«
    »Ich … ich konnte nicht anders«, sagte Dämmer.
    Sylph, die sich noch nie gescheut hatte, laut zu werden, zu streiten oder jemanden zu ärgern, sah verschreckt aus.
    »Das wird jetzt richtig übel«, sagte sie.
    Dämmers Hals war trocken und er wäre fast an dem letzten Stück Libelle erstickt.
    »Wie hast du das gemacht?«, hörte er jemanden rufen.
    »Er ist geflogen!«, schrie ein anderer. »Ikarons Sohn ist geflogen.«
    »Du bist geflogen!«, stieß Jib hervor, während er den Baumstamm zu ihm hochkletterte. »Was für eine Missgeburt bist du eigentlich?«
    »Chiropter können nicht fliegen«, stellte jemand anderes fest.
    »Der hier schon. Ich hab ihn genau gesehen. Er hat geflattert.«
    »Er ist so eine Art Mutant!« Das war wieder Jib, auf demselben Ast nun, mit einem unergründlichen Blick, der in seinen Augen flackerte. War das Neid, Angst oder Hass?
    Immer mehr Chiropter sammelten sich um ihn herum, was Dämmer nicht gefiel. Warum hatte er sich nicht besser beherrscht? Der Fehler eines winzigen Augenblicks würde ihm nun mehr Schwierigkeiten einbringen, als er sich vorstellen konnte. Einige der Chiropter klangen weniger überrascht, dafür umso wütender, und Dämmer bekam langsam Angst davor, was sie vielleicht tun würden. Ein Schwall von Aggression zog an ihm vorüber. Als er dann seinen Vater auf den Ast zugleiten sah, war er doch sehr erleichtert.
    »Was ist hier los?«, verlangte Ikaron zu wissen, und seine Nasenflügel zuckten, als er die unerfreuliche Stimmung witterte.
    Die Chiropter auf dem Ast machten ihm Platz, während sie alle durcheinandersprachen.
    »Er hat geflattert!«
    »Dämmer ist geflogen!«
    »Wir haben es alle gesehen!«
    »Er hat geflattert wie ein Vogel!«
    Qualvoll wartete Dämmer ab, bis sein Vater näher gekommen war.
    »Stimmt das?«, fragte Ikaron.
    Dämmer nickte.
    So unglücklich er sich auch fühlte, so war er doch erleichtert, dass sein Geheimnis nun gelüftet war und ihn nicht länger belastete.
    »Zeig es mir«, sagte Ikaron schroff.
    Dämmer schleppte sich gehorsam an den Rand des Asts. Traurig erinnerte er sich daran, wie ihm sein Vater das Gleiten beigebracht hatte, dann sprang er, entfaltete seine Segel und erhob sich in die Luft. Er konnte das erschrockene und verwunderte Raunen der Chiropter, die ihn beobachteten, unter sich hören.
    Einen Augenblick lang überlegte er, noch höher zu fliegen und ganz zu verschwinden, damit er sich nicht dem Zorn und der Schmach seines Vaters stellen müsste. Er würde schon irgendwo einen neuen Ort finden, an dem er leben könnte, und dann würde er wirklich sonderbar und stinkend und verlaust werden. Doch es würde auch bedeuten, dass er seine Mutter und seinen Vater, Sylph, sein Zuhause und alles, was er liebte, zurücklassen müsste, und er wusste genau, dass er das niemals machen würde. Er musste seinem Vater gegenübertreten. Er seufzte

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