Nachtflügel
niemals eine Gefährtin fände. Er hatte seine Mutter, seinen Vater und Sylph – obwohl Sylph wahrscheinlich fortginge, um mit ihrem Gefährten zu leben, sobald es an der Zeit war.
»Er sieht nun mal sehr seltsam aus«, sagte seine Mutter traurig. »Ich liebe ihn, und es sollte keine Rolle spielen, doch wenn ich ihn so ansehe, sieht er einfach nicht so aus wie meine anderen Kinder. Es ist, als würde er zu irgendeiner anderen Art gehören.«
Dämmer wusste nicht, ob er überhaupt noch mehr hören wollte, doch er musste einfach weiterlauschen.
»Er ist unser Kind, genau wie die anderen auch«, sagte Ikaron sanft. »Und er hat etwas, das niemand von uns sonst hat. Er kann schneller jagen, den Wald wirkungsvoller absuchen, hoch fliegen und die Welt um uns herum besser beschreiben. Er kann jeden Feind, der sich nähert, schon aus der Entfernung sehen und uns warnen. Macht ihn das etwa nicht zu einem begehrenswerten Gefährten?«
»Ja, natürlich. Aber manchmal ist es nicht gut, sich zu sehr von den anderen zu unterscheiden. Wir werden von Wesen angezogen, die so sind wie wir selbst. So ist das nun einmal.«
»Ich habe dich ja auch als meine Gefährtin gewählt«, sagte Ikaron.
»Ja, aber meine Andersartigkeit ist nicht sichtbar.«
Dämmer reckte die Ohren noch höher. Worüber sprach seine Mutter?
»Alle können Dämmers Andersartigkeit deutlich sehen«, fuhr seine Mutter fort. »Aber du bist der Einzige, der von meiner weiß. Und du warst einverstanden, dass es das Beste wäre, es geheim zu halten.«
Dämmer hörte, wie sein Vater seufzte. »Vielleicht war das falsch. Wieso sollte es eine Schande sein, bei Nacht sehen zu können?«
»Ich kann das auch!«, brach es aus Dämmer heraus, bevor er es unterdrücken konnte. Er krabbelte auf seine bestürzten Eltern zu.
Sehr viel leiser sagte er dann: »Ich kann auch im Dunkeln sehen.«
»Das kannst du?«, fragte seine Mutter schwach.
Dämmer nickte. »Mit meinem Jagdschnalzen. Damit kann ich alles sehen. Ist das bei dir genauso?«
»Ja«, sagte sie mit einem leisen Lachen. Dann runzelte sie die Stirn. »Wie viel hast du gehört?«
»Ein bisschen«, sagte er verlegen.
Sie kam zu ihm und drückte sich an ihn. »Ich habe dich genauso lieb wie meine anderen Kinder. Es tut mir leid, wenn es anders geklungen hat. Und jetzt höre ich, dass wir sogar noch mehr gemeinsam haben. Echosehen.«
»So nennst du das?«
»Warum hast du uns das nicht früher gesagt?«, fragte sein Vater.
»Ich hab Angst gehabt, ihr würdet euch für mich schämen«, sagte Dämmer. »Weil ich doch schon anders genug war.«
»Wir haben uns nie für dich geschämt«, sagte seine Mutter. »Ich hab einfach nur gewollt, dass du die besten Möglichkeiten hast. Deshalb habe ich gedacht, manche Dinge sollten lieber geheim bleiben.«
»Aber du hast Papa von deinem Echosehen erzählt.«
»Aber nur ihm.«
»Das war ein Riesenvorteil für eine Saurierjägerin«, sagte Ikaron. »Deine Mutter konnte auf größere Entfernungen sehen und auch bei Nacht. Die Saurier sehen ziemlich schlecht, vor allem im Dunkeln. Deine Mutter konnte uns direkt zu den Nestern führen, ohne bemerkt zu werden.«
Dämmer betrachtete seine Mutter mit gesteigerter Bewunderung – und auch mit Erleichterung. Er war mit seiner seltsamen Begabung wenigstens nicht alleine.
»Warum können wir das?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht hatte mein Vater oder meine Mutter dieselbe Fähigkeit. Aber sie haben nie darüber gesprochen. Und ich habe mich ihnen nie anvertraut.«
»Hast du Angst gehabt, dass du gemieden wirst?«
»Ja.«
»Aber vielleicht gibt es noch andere, die das können?«, fragte Dämmer hoffnungsvoll. »Die bloß Angst haben, es zu sagen, genau wie wir auch.«
»Das kann schon sein«, meinte Ikaron.
»Es wäre besser, wenn jeder einfach alles sagen würde«, sprudelte es aus Dämmer heraus. »Dann müsste niemand mehr Angst haben, anders zu sein.«
Mistral nickte bedrückt. »Der Drang, so zu sein wie die anderen, ist sehr stark. Er durchströmt unsere Adern zusammen mit unserem Blut.«
»Aber es ist wohl auch so«, sagte Ikaron, »dass in jedem von uns der Samen gelegt ist für eine Veränderung. Wann und warum er aufgeht, weiß niemand.«
Dämmer starrte hinaus in die Dunkelheit der Lichtung. Er war etwas verwirrt von all den neuen Dingen, die er gerade erfahren hatte. Für den Moment reichte es ihm. Ein bisschen wünschte er sogar, er könnte in der Zeit so weit zurückgleiten, bevor der Saurier
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